Götterfall
einfach unmöglich! Der alte Mann brauchte seine Zeit, sich wieder auseinanderzufalten und gerade aufzurichten, aber er sah dabei nicht unglücklich aus. Sein Blick war wacher, sein Gesicht weniger blass.
Dass Götze sich von der Rückbank schob, wunderte Wencke dagegen kaum noch – sie wusste ja, wie er mit Hüffart einerseits und mit Lena andererseits in Verbindung zu bringen war.
»Tut mir leid, es hat doch etwas länger gedauert. Aber ein Twingo ist einfach nicht der passende fahrbare Untersatz für dieses Gelände.« Lena streckte ihr die Hand entgegen.
Selbst jetzt, als diese junge Frau vor ihr stand, keine zwei Schritte entfernt und bei besten Lichtverhältnissen, selbst jetzt konnte Wencke kaum eine Ähnlichkeit mit Doro feststellen. Höchstens die Augen. Vielleicht glich Lena eher ihrem Vater, der sich jetzt hinzugesellte, die Ohren eventuell. Dass sie mit ihrem Vater-Tochter-Verhältnis selbst noch nicht wirklich souverän umgehen konnten, verriet ihre Körpersprache: Sie vermieden es, sich direkt anzusehen, Götze hatte seine Hände noch nicht einmal aus den Jackentaschen gezogen.
Auch Wencke wusste nicht so recht, wohin mit sich und ihren vielen Fragen.
»Hier ist es schön«, sagte Hüffart dann. »Ich würde gern einen Spaziergang machen.«
»Wir haben aber keinen Rollstuhl«, sagte Götze.
»Ich kann schon laufen!«, erwiderte der alte Mann trotziger als ein Vorschüler. »Bitte, ich würde gern einen Spaziergang machen!« Fast flehend blickte er ausgerechnet Götze an. »Da hinten sind Pferde! Bitte, gehen wir zu den Pferden!«
Doch Götze ließ sich erst überreden, nachdem auch Lena Jacobi ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, wie wichtig es war, Hüffart bei Laune zu halten. Arm in Arm, wie Pfleger und Patient, schlichen die beiden zur Pferdekoppel und ließen Wencke und Lena am Haus zurück. Es widerstrebte Wencke, wie eine Gastgeberin aufzutreten und einen Sitzplatz auf der Veranda anzubieten, also blieben sie einfach stehen, lehnten sich gehen die Holzbrüstung und schauten Hüffart und Götze hinterher.
Wencke brauchte glücklicherweise gar nicht weiter nachzufragen, Lena erzählte ohne Aufforderung ihre Geschichte vom ersten Besuch beim Jugendamt bis zum Erhalt der fünf Briefe. »Ich habe die Zeilen sicher tausendmal gelesen und überlegt, was ich mit diesen Informationen anfangen soll. Meine Mutter ist einem politischen Skandal auf der Spur gewesen, konnte das aber nie öffentlich machen, weil sie vorher aus unerklärlichen Gründen ins Koma gefallen ist.«
»So unerklärlich waren die Gründe gar nicht«, unterbrach Wencke. »Ich habe Informationen des Arztes, der Doro damals betreut hat. Medizinisch gesehen ist das, was deiner Mutter passiert ist, zwar selten, aber nicht ungewöhnlich in der Schwangerschaft.«
»Was wollen Sie damit andeuten?« Lena ging offensichtlich auf Distanz. Eben erst hatte Wencke ihr das Du angeboten, denn alles andere erschien inzwischen fehl am Platz – trotzdem blieb die junge Frau hartnäckig beim Sie.
»Es könnte auch sein, dass die Sache mit der Embolie eine unglückliche, aber ganz natürliche Ursache hatte und kein Mordanschlag gewesen ist.«
Lena starrte sie an. »Sie sind ja noch viel schlimmer, als ich bislang angenommen habe! Sie haben die Notizen doch gelesen, meine Mutter wurde verfolgt und eingeschüchtert …«
»Hast du dich nie gefragt, wer diesen Umschlag mit den Briefen zum Jugendamt geschickt hat?«
»Doch, natürlich habe ich das. Und ich hatte auch einige Leute im Verdacht. Unter anderem auch Sie …«
»Mich?« Wencke schüttelte den Kopf. »Nein, da muss ich dich enttäuschen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich alles, was damals passiert ist, ziemlich verdrängt. Als ich vor fünf Tagen in Hannover den ersten Brief geöffnet habe, kam es mir vor, als ob mir jemand den Boden unter den Füßen wegzieht.«
Hinter dem Haus wieherte und schnaubte eines der Islandpferde, ansonsten war es fast still ringsherum. »Und es war ja auch nicht gerade schmeichelhaft, was in den Briefen über mich geschrieben stand«, ergänzte Wencke.
»Sie haben meine Mutter ziemlich hängen lassen!« Auch wenn Lena ganz zahm neben ihr stand, ihr Groll war mit Händen zu greifen. »Deswegen habe ich Ihnen die Briefe auch zukommen lassen. Sie sollten sich an Doro erinnern und begreifen, was damals geschehen ist.«
»Ein seltsamer Plan! Du hättest doch auch einfach zu mir kommen und mich fragen können: Hey, ich bin Doros Tochter, und ich wüsste
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