Götterschild
fixierte ihre Mutter für einen Augenblick und Rai sah die abgrundtiefe Verachtung, die aus ihren Augen sprach. »Ich wollte wissen, warum«, sagte sie schlicht.
»Warum was?«, fragte ihre Mutter aufgebracht. »Warum dein Vater uns hier sitzen ließ und in die Wüste gegangen ist! Was weiß ich denn, was in seinem vernebelten Verstand vor sich gegangen ist.«
»Nein«, entgegnete Selira mühsam beherrscht, »ich will wissen, warum du mich damals an die Sklavenhändler verkauf hast.«
Rai blieb der Mund offen stehen. Dass es sich bei Seliras Mutter nicht gerade um eine gütige Person handelte, war Rai schon früh klar geworden, aber dass sie zu einer solch niederträchtigen Tat fällig war, das erschütterte den kleinen Tileter zutiefst. Bei so einer Vergangenheit wunderte es Rai nicht mehr, dass der Umgang mit Selira bisweilen etwas komplizier war. Eigentlich erstaunte es ihn sogar, dass aus ihr trotzdem so ein liebenswerter und charakterfester Mensch geworden war. Wahrscheinlich kam sie mehr nach ihrem Vater.
Tawa schwieg und zeigte das erste Mal Anzeichen für so etwas wie Reue. Aber dann schüttelte sie diese Andeutung von Schuldbewusstsein sogleich wieder ab. »Was heißt hier verkauft?«, blaffte sie zurück. »Das hast du nicht richtig verstanden, schließlich warst du noch klein. Sie haben dich einfach mitgenommen, das war’s. Ich konnte nichts machen.«
»Warum hat dir dann der Sklavenhändler Geld gegeben bevor er mich mitnahm?« Selira ließ ihre Mutter nicht aus den Augen, die mit zunehmendem Unbehagen von einen Bein auf das andere trat.
»Was hätte ich denn machen sollen?«, fragte sie händeringend. »Dein Vater war weg, ich hatte kein Geld und nichts zu essen. Wir wären beide verhungert. Ich hatte keine Wahl.«
»Du hättest mich wenigstens einem Leibherrn aus Etecrar überlassen können«, sagte Selira, deren Gesichtszüge zu Stein erstarrt waren. »Hier werden Sklaven immerhin noch halbwegs gut behandelt. Aber ich musste in die Erzminen vor Andobras. Hast du eine Vorstellung davon, wie es dort ist?«
Tawa machte ein paar Mal den Mund auf und zu, aber es schien ihr nichts Passendes einzufallen, das sie hätte erwidern können.
»Aber ein Leibherr hätte dir nichts bezahlt«, sprach Selira weiter, »also hast du mich an die Jovener verkauft und es interessierte dich nicht im Geringsten, was aus mir wird.«
»Das stimmt nicht«, protestierte Tawa, »sie sagten, es würde dir gut gehen, dort wo du hinkommst.«
»Und du hast nicht nachgefragt, an welchen Ort sie mich bringen?«, hakte Selira nach.
»Sie hätten mir wohl kaum die Wahrheit gesagt«, war alles, was Tawa als Erklärung anzubieten hatte.
Selira ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen. »Das bedeutet«, stellte sie nüchtern fest, »dass dir schon damals klar war, dass diese Kerle lügen. Es war dir einfach völlig egal, wo sie mich hinbringen, es zählte nur das Geld. Hast du mich denn überhaupt jemals geliebt?«
Zunächst sah Tawa fast erschrocken aus, als hätte sie diese Frage nicht erwartet, dann verhärteten sich jedoch ihre Gesichtszüge und ihre Antwort glich dem Zuschlagen einer Tür:
»Ich habe drei Kinder mit einem Mann, der wenigstens jeden Tag etwas zu essen nach Hause bringt. Das ist jetzt mein Leben. Kein besonders großartiges Leben, aber wenigstens müssen ich und meine Kinder nicht hungern. Mein altes Leben versuche ich zu vergessen.«
Rai fand es beängstigend, mit anzusehen, wie Selira bei diesen Worten förmlich in sich zusammensackte. Vorher hatte sie kerzengerade und hoch erhobenen Hauptes vor ihrer Mutter gestanden, aber bei Tawas letzten Sätzen brach Seliras Fassung wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
»Das heißt, du willst auch mich vergessen«, murmelte sie.
»Komm, wir gehen«, sagte Rai behutsam und nahm Selira am Arm. Sie ließ sich widerstandslos von ihm in Richtung Dorfausgang führen.
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, rief Tawa hinter ihnen her. »Jeder hätte an meiner Stelle so gehandelt!«
Rai kümmerte sich nicht um das Geschrei der Frau, sondern sah zu, dass er mit Selira so schnell wie möglich von diesem bedrückenden Ort fortkam. Erst als sie schon weit außerhalb der Palisaden waren, hielt er an und suchte nach den geeigneten Worten, um Selira etwas Trost zu spenden. Doch als er die Verzweiflung in ihrem Gesicht sah, erschien ihm plötzlich alles, was er hätte sagen können, absolut unzureichend. Diesen Schmerz konnte man nicht mit Worten lindern.
»Das … das … das
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