Götterschild
glücklich.
VOGELPERSPEKTIVE
D abei gab es für Rais Euphorie – außer der erfreulichen Entwicklung seiner Beziehung zu Selira – kaum Veranlassung. Auf dem Weg nach Tanduco würden ihnen unweigerlich die Vorräte ausgehen und da sie weder über eine Waffe verfügten noch über ausreichend Kenntnisse, um in der Wüste Wild oder auch nur eine Wasserstelle aufzuspüren, würden die kommenden Tage sicherlich kein Zuckerschlecken werden. Rai hatte schon öfter Hunger leiden müssen und auch Trinkwasser war, als er noch in den Straßen Tilets gelebt hatte, an heißen Sommertagen schon einmal knapp geworden. Deshalb wusste er genau, welche Entbehrungen da auf sie zukamen. Er sah sich in dem dürren Waldstück, das sie auf dem Rückweg zur Karawanenroute zu durchqueren hatten, sorgfältig nach allen Seiten um, ob er nicht vielleicht etwas Verwertbares entdecken konnte. Zwar verlief seine Suche in dieser Hinsicht enttäuschend, doch fiel ihm auf diese Weise unversehens ein kreisender Schatten hoch über den Baumwipfeln auf.
»Sieh mal!« Rai deutete in den Himmel. »Könnte das Resa sein?«
Selira spähte ebenfalls nach oben. »Müsste sie nicht längst mit Oibrin in Tanduco sein?«, fragte sie skeptisch. »Vielleicht gehört diese Säbelschwinge zu einer anderen Karawane.«
»Aber warum kreist sie dann so weit nördlich?«, überlegte Rai. »Die Straße von Kersilon nach Tanduco ist doch noch mindestens eine Tagesreise entfernt.«
»Keine Ahnung«, entgegnete Selira, »aber wir sollten besser auf der Hut sein. Wäre ja möglich, dass sie uns als Nahrung betrachtet.«
Rai sah Selira erschrocken an, was ihre Augen belustigt aufblitzen ließ. Sofort bemühte er sich, jegliche Anzeichen von Furcht aus seinem Gesicht zu verbannen, und umklammerte stattdessen entschlossen den Knauf seines Schwertes. Selira bedachte dies nur mit einem milden Lächeln.
»Was denn?«, erkundigte Rai sich und versuchte, dabei nicht allzu beleidigt zu klingen.
»Nichts«, versicherte sie eilig. »Ich habe nur gerade festgestellt, wie gut es ist, dass ich nicht alleine durch diese Wildnis laufen muss.«
Rai musterte sie aufmerksam, konnte aber keinerlei Hinweise erkennen, dass ihre Bemerkung spöttisch gemeint war. Demnach durfte er davon ausgehen, dass Selira seine Begleitung wirklich zu schätzen wusste – ein Umstand, der ihn fast schon wieder in Euphorie verfallen ließ.
Doch dann hörten sie plötzlich ein schrilles Kreischen. Sie hatten den kreisenden Flugwolf über sich nur für einen kurzen Moment aus den Augen gelassen, aber diese Zeitspanne war für das Tier ausreichend gewesen, um bis auf wenige Meter an die beiden Wanderer heranzukommen. Allerdings war die Säbelschwinge bei ihrem Flugmanöver mit einem ihrer Flügel unglücklich an einem Baum hängen geblieben und brach nun nicht gerade elegant durchs Geäst, bis sie mit einem dumpfen Schlag am Boden aufkam, wo sie erst einmal benommen liegen blieb.
Rai und Selira warfen sich einen erstaunten Blick zu. Erst als sich die Säbelschwinge wieder aufrappelte und ihnen auf ihre Flügel gestützt und mit einem kläglichen Winseln entgegenzuhoppeln begann, erkannten die beiden den abgebrochenen Pfeilschaft, der aus dem rechten Flügelansatz ragte.
»Sie ist verwundet«, rief Rai erschrocken.
Auch Selira wirkte bestürzt. »Ist das nun Resa oder nicht?«
»Ich glaube schon«, meinte Rai und ging ein paar Schritte auf die Säbelschwinge zu. »Ruhig, Resa«, sagte er leise. »Wir tun dir nichts. Ich will mir nur deine Wunde ansehen.«
»Sei vorsichtig, Rai«, warnte Selira besorgt. »Die Schmerzen machen sie sicherlich angriffslustig.«
Rai blieb stehen. Er blickte der Flugwölfin direkt in die spindelförmigen Augen und plötzlich war er sich sicher, dass sie ihm nichts tun würde. Das Tier hatte eindeutig Angst.
»Ist gut, Resa«, beruhigte er sie weiter. »Wir helfen dir.«
Endlich stand er nur noch einen Schritt von dem stattlichen geflügelten Wolf entfernt. »Ich werde jetzt den Pfeil herausziehen«, erklärte er. »Das kann ein bisschen wehtun.«
Rai beugte sich vor, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Viel Blut war nicht zu sehen, aber sicherlich behinderte der Pfeil sie beim Fliegen, was wahrscheinlich Resas ungelenke Landung erklärte. So behutsam wie möglich umfasste er den Schaft und zog ihn dann mit einem Ruck heraus. Die Flugwölfin stieß ein schrilles Quietschen aus und Rai brachte sich vorsichtshalber mit einem Sprung nach hinten außer Reichweite
Weitere Kostenlose Bücher