Götterschild
finster auf den zerzausten Vierbeiner hinab. Doch als die Frau Rai entdeckte, richtete sich ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn.
»Wer bist du und was machst du hier?«, verlangte sie zu erfahren. »Wenn du ein Landstreicher bist, kannst du gleich wieder gehen, wir haben selber nichts.«
Der höchst ungastliche Empfang traf Rai gänzlich unvorbereitet. Zu allem Überfluss hatte sich der Hund mittlerweile von der Schelte seiner Besitzerin erholt und versuchte erneut, den Eindringling in seinem Revier durch lautstarkes Gebell in die Flucht zu schlagen. So brauchte es eine Weile, bis Rai sich zu einer passenden Erwiderung gesammelt hatte:
»Ich fürchte, es handelt sich hier um ein Missverständnis, ich wollte nicht betteln, sondern eigentlich nur etwas fragen.«
»Na, dann frag und verschwinde wieder«, forderte ihn du Frau äußerst unwirsch auf, »ich hab noch zu tun.« Der Hund unterstrich diese Forderung durch eine weitere Kläfftirade. Inzwischen waren drei Kinder im Alter zwischen vier und acht Jahren im Türrahmen aufgetaucht und begutachteten neugierig den unbekannten Besucher. Ihre Kleider waren mindestens genauso zerlumpt wie die ihrer Mutter.
Rai fiel bei dieser Gelegenheit auf, dass keines der vier Kinder Seliras dunkle Hautfarbe aufwies. Konnte es sich bei diesen Leuten dann überhaupt um die gesuchte Familie handeln? Er sah sich unschlüssig nach seiner Begleiterin um und stellte fest, dass sie bereits bis auf ein Dutzend Schritt herangekommen war. Sie ging dabei eigentümlich langsam, so als fürchte sie sich vor dem, was sie in dem Haus ihrer Kindheit vorfinden könnte. Schließlich blieb sie stehen und machte nicht den Anschein, noch einen Schritt tun zu wollen.
Rai gelangte zu der Überzeugung, dass Selira wohl ihm da: Sprechen überlassen wollte. Er wandte sich wieder an die Frau. »Ich wollte nur wissen, ob hier früher einmal ein Mädchen namens Selira gewohnt hat.«
Augenblicklich verfinsterte sich das ohnehin nicht besonders freundliche Gesicht der Frau. »Ich kenne kein Mädchen mit diesem Namen«, keifte sie, »und wer bist du überhaupt dass du hierherkommst und solche Fragen stellst.« Wütend scheuchte sie ihre drei Kinder wieder ins Haus, wobei sich der Hund ebenfalls mit den Sprösslingen nach drinnen stahl. Als sie jedoch gerade die Tür hinter sich zuschlagen wollte brach Selira endlich ihr Schweigen:
»Mutter?« Ihre Stimme zitterte. Zögernd kam sie noch ein paar Schritte näher. »Mutter, ich bin es, Selira.«
Die Frau erstarrte und drehte sich dann ganz langsam um. Aus zusammengekniffenen Augen musterte sie Selira eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Ich sagte schon, das: ich niemanden kenne, der so heißt.«
»Natürlich kennst du mich«, beharrte Selira und trat der Frau gegenüber. »Du heißt Tawa und ich bin deine Tochter. Mein Vater war ein Wüstenkrieger der Rardrakan mit Namen Qntap. Er wollte dich mit in die Wüste nehmen, aber du hast es vorgezogen, hier in Nalesch zu bleiben. Deshalb bin ich hier aufgewachsen, bis ich von jovenischen Sklavenhändlern mitgenommen wurde. Daran wirst du dich doch wohl erinnern.« Selira klang zornig, zugleich aber auch so verzagt und verletzlich, wie es Rai bei ihr noch nie zuvor erlebt hatte. Am liebsten hätte er sie in seine Arme geschlossen, um sie vor dem zu beschützen, was ihr so großen Kummer bereitete. Aber das würde sie niemals zulassen, so viel war klar, also konnte er nichts weiter tun, als neben ihr zu stehen und im Stillen mit ihr zu leiden.
Seliras Mutter schien sich unterdessen entschieden zu haben, dass es keinen Sinn machte, weiter die Unwissende zu spielen. »Pah«, rief sie verächtlich, »natürlich erinnere ich mich daran. Dein feiner Vater war ein Trunkenbold und Tunichtgut. Von wegen stolzer Wüstenkrieger! Mein ganzes Geld hat er versoffen und als keins mehr da war, ist er zurück zu den anderen Strauchdieben in die Wüste gegangen und hat wieder Karawanen überfallen. Geschieht ihm ganz recht, dass ihn schließlich ein Pfeil erwischt hat.«
»Er hat nur getrunken, weil du ihn gezwungen hast, in diesem von allen Göttern verlassenen Küstendorf zu leben«, gab Selira mit bebenden Lippen zurück. »Er liebte die Wüste.«
»Ach, diese alten Geschichten.« Tawa winkte ab. »Warum bist du überhaupt gekommen? Nur, um mir Vorwürfe zu machen? Dein Vater ist tot. Ich habe jetzt einen anderen Mann und mit ihm drei Kinder, die ich ernähren muss. Da bleibt keine Zeit für solchen Unsinn.«
Selira
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