Götterschild
war schrecklich«, stammelte er. »Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«
Ohne ein Wort zu sagen, trat Selira auf ihn zu und legte ihre Stirn auf seine Schulter. Rai war so überwältigt, dass er zunächst nicht reagierte, sondern einfach nur stocksteif stehen blieb, als schmiege sich da ein wildes Tier an seine Seite. Doch irgendwann wagte er, seine Arme um Selira zu legen und sie langsam an sich zu drücken, bis aus der zaghaften Annäherung eine enge Umarmung geworden war. In diesem Augenblick kam es Rai so vor, als befände sich hier an diesem entlegenen Ort das Zentrum der Welt. Alles, was nicht innerhalb dieses von ihm und Selira gebildeten Mittelpunkts lag, verlor jede Bedeutung. Der Moment, in dem er Selira das erste Mal in seine Arme schließen durfte, schien ewig zu dauern und war dennoch viel zu kurz. Er konnte sich aber der bitteren Notwendigkeit nicht entziehen, dass er Selira irgendwann wieder loslassen musste, und so gab er sie endlich, wenn auch widerwillig, frei.
»Danke«, flüsterte sie, nachdem sie sich verlegen über die Augen gewischt hatte.
»Wofür?«, fragte Rai erstaunt. »Ich habe doch gar nichts getan … außer dir ständig auf die Nerven zu gehen.«
»Du warst da«, erwiderte sie mit gesenktem Blick. »Und du hast mir nicht unter die Nase gerieben, dass du mich ja gleich vor dieser Reise gewarnt hast.«
»Mit so einem Ausgang hatte ich auch überhaupt nicht gerechnet«, bekannte Rai. »Ich meine, dass uns Banditen überfallen, wir verdursten, uns verlaufen, von irgendwelchen Raubtieren gejagt werden oder deine Familie hier gar nicht mehr lebt, all das hatte ich für möglich gehalten. Aber dass du es schaffst, sicher durch die Wüste bis hierher zu kommen und deine Familie aufzuspüren, nur um dir dann … so etwas anhören zu müssen, das überstieg meine Vorstellungskraft.«
Selira fuhr sich abermals über die Augen, was Rai sofort hinzufügen ließ: »Aber es ist natürlich nur verständlich, dass du deine Mutter zur Rede stellen wolltest. Ich hätte das auch nicht anders gemacht an deiner Stelle.«
»Schon gut, Rai«, antwortete Selira niedergeschlagen. »Es war eine dumme Idee, hierherzukommen. Ich weiß nicht, was ich mir davon erwartet hatte. In all den Jahren im Bergwerk stellte ich mir ständig die Frage, warum meine Mutter mich verkauft hat. Ich suchte die Schuld bei mir. Vielleicht hatte ich deshalb gehofft, irgendetwas wiedergutmachen zu können, indem ich herkomme. Ich dachte, sie freut sich, mich wieder zu sehen, und verzeiht mir oder alles erweist sich nur als schreckliches Missverständnis. Jetzt bin ich klüger. Tawa war nie eine gute Mutter und das lag nicht an mir. Immerhin hat mir meine Heimreise diese eine Erkenntnis beschert.«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Rai, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gestanden hatten.
Selira zuckte die Achseln. »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich dachte eigentlich immer, ich könnte zumindest für eine kleine Weile in Nalesch bleiben.«
»Sollen wir wieder zurück nach Kersilon gehen?«, schlug Rai vor. »Ich glaube zwar nicht, dass die anderen auf uns gewartet haben, aber dort kennen wir uns zumindest schon ein wenig aus.«
»Tanduco wäre näher«, entgegnete Selira. »Ich denke, es ist einfach zu gefährlich für uns beide, allein zehn Tage lang durch die Wüste zu ziehen, einmal davon abgesehen, dass wir kaum noch Vorräte haben. Wahrscheinlich lassen sich die Wasserstellen, an denen wir auf dem Herweg Halt gemacht haben, relativ leicht wieder finden, aber was sollen wir während des Rückwegs essen?«
»Du hast recht«, räumte Rai ein, »Tanduco ist die bessere Wahl. Und immerhin lernen wir so noch Eringars Heimatstadt kennen. Dort müssen wir versuchen, auf einem Schiff nach Norden anzuheuern. Wir werden dann schon sehen, wohin es uns letzten Endes verschlägt.«
»Also gut.« Selira atmete tief durch. »Dann gehen wir sofort los. Ich will so schnell wie möglich von hier weg.«
Es hatte sich etwas Grundlegendes verändert zwischen ihnen, stellte Rai voller Freude fest. Schon allein, dass sie nun nebeneinander gingen und nicht mehr hintereinander, wertete er als gutes Zeichen für ihre Beziehung, aber das war es nicht allein. Er hatte das Gefühl, die unsichtbare Mauer, die bislang zwischen ihnen gestanden hatte, sei auf einmal eingestürzt. Jetzt fiel alles leichter, es gab keine Barriere mehr, die es ständig zu überwinden galt. Rai war
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