Götterschild
Seewaith wirkten kurz nach Einbruch der Nacht regelrecht ausgestorben. Ein kühler Wind strich zwischen den eng stehenden Häuserzeilen hindurch, sodass Rai froh um seinen Mantel war, den er eigentlich nur zur Tarnung übergestreift hatte. Aber diese Vorsichtsmaßnahme stellte sich als völlig überflüssig heraus, denn auf dem Weg zum Rathaus begegnete ihnen nicht eine Menschenseele. Nur hier und da sickerte ein wenig Licht durch geschlossene Fensterläden oder unter einem Türspalt nach draußen. Viele Häuser schienen aber auch unbewohnt – vielleicht eine Folge der verlustreichen Schlacht bei Königswacht, von der Targ und Meatril erzählt hatten. Rai musste daran denken, wie leicht es ihm unter diesen Umständen fallen würde, unbemerkt in eines der Häuser einzusteigen, aber er erinnerte sich sogleich wieder selbst daran, dass sein Leben als Dieb inzwischen schon recht weit hinter ihm lag. Schließlich hatte er nur aus blanker Not andere um ihre Besitztümer gebracht und den Göttern sei Dank, war er nun bereits seit längerer Zeit nicht mehr auf solch einen Broterwerb angewiesen.
Nach einem kurzen Fußmarsch hatten sie schließlich das von einem Gitterzaun umgrenzte Ratsgebäude erreicht. Immer noch war weit und breit kein Mensch zu sehen, aber durch einige der milchigen Facettenfenster des altehrwürdigen Bauwerks fiel Licht in den umgebenden Garten. Belena marschierte zielstrebig auf ein kleines Nebentor zu, das halb offen stand. Von dort aus ließ sich einer der Seiteneingänge des Ratsgebäudes erreichen.
»Warum gibt es hier nirgends Wachen?«, flüsterte Targ und verlangsamte seinen Schritt. »Hier standen doch auch bei Nacht immer mindestens zwei Posten!«
»Das Ratsgebäude wird nicht mehr benutzt«, erklärte Meatril, der sich jedoch selbst nervös umzusehen begann. »Grandurs Haushälterin hat doch erzählt, dass die Priesterschaft den Rat aufgelöst hat. Demnach würden nur noch Tarana und Daia hier wohnen und für die werden sicherlich nicht extra zwei Wachen abgestellt.«
Targ nahm seine Kapuze ab und griff nach seinem Schwert. »Meinetwegen«, knurrte er, »aber hier ist etwas faul, da kannst du mir erzählen, was du willst.« Er ließ seine Hand am Knauf, zog die Klinge aber noch nicht.
»Ich habe das Tor offen gelassen«, rief Belena, die bereits am Zaun angekommen war. »Dort drinnen warten Tarana und Daia auf euch.«
Auch Meatril umklammerte jetzt den Griff seines Schwerts und rührte sich nicht mehr von der Stelle.
»Was ist denn los?«, erkundigte sich Rai verwundert. »Habt ihr was Verdächtiges gesehen?«
»Es ist mehr so ein Gefühl«, erwiderte Meatril leise. »Targ hat recht. Irgendetwas stimmt hier nicht.«
In diesem Moment war ein vernehmliches Quietschen zu hören. In dem Haus unmittelbar hinter ihnen, gegenüber dem Seiteneingang des Ratsgebäudes, hatte sich eine Tür geöffnet. Alle fuhren herum, die Ecorimkämpfer zückten augenblicklich ihre Klingen.
»Wie kann man nur so misstrauisch sein«, ertönte eine nur allzu bekannte Stimme. »Ich wusste, dass ihr eurer treuen Gefährtin nicht bis ins Ratsgebäude folgen würdet, darum habe ich meine Leute ein wenig verteilt.« Es folgte jenes unverwechselbare hämische Gelächter, das die Ecorimkämpfer selbst im Schlaf wieder erkannt hätten.
»Megas!«, schrie Targ und hob sein Schwert. »Du hinterhältige Kanalratte, jetzt wirst du bezahlen!« Er wollte losstürmen, doch im gleichen Augenblick flogen sämtliche Fensterläden der umliegenden Häuser auf und Männer mit gespannten Armbrüsten neigten sich daraus hervor. Ebenso strömten aus dem Ratsgebäude nun zahllose Bewaffnete in den Garten hinaus und postierten sich mit ihren Schusswaffen im Anschlag hinter dem Gitterzaun.
»Versuch es ruhig«, forderte Megas den Ecorimkämpfer im gewohnt überheblichen Tonfall auf. »Da du unter allen Umständen am Leben bleiben sollst, werden sie nur auf deine Arme und Beine schießen. Die lassen sich nämlich amputieren, falls sie zu sehr beschädigt sind, und du wirst dennoch wunderbar weiterleben können.«
Targ ließ seine Klinge sinken und sah sich erschüttert um. Sie waren von mindestens drei Dutzend Angreifern umringt, die ausnahmslos mit Armbrüsten ausgestattet waren. Diesen Kampf würden sie nicht gewinnen können. »Du bist ein elender Feigling!«, spie er Megas voller Hass entgegen.
»Oh, ich will hier keinen falschen Eindruck erwecken«, erwiderte Megas selbstzufrieden. »Ich würde euch nur allzu gerne hier und
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