Götterschild
Fleisch essen, um ihren Hunger zu stillen, wenn sich nicht anderes beschaffen ließ, aber wann immer es möglich war, wich sie auf Früchte, Beeren, Brot oder Ähnliches aus. Als sie mit ihrer Mutter Tarana das erste Mal auf die Jagd gegangen war, hatte sie nicht aufgepasst und die letzten Gedanken eines von einem Pfeil getroffenen Tieres aufgeschnappt. Das war so furchteinflößend gewesen, dass sie seither nie wieder die Frauen auf der Jagd begleitet hatte.
Die mittlerweile sechsjährige Thalia war nicht immer glücklich über ihre besondere Gabe, Gedanken und vor allem Gefühle von anderen Lebewesen wahrnehmen zu können. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, die Todesangst eines Tieres zu teilen, während dieses seine letzten Atemzüge tat. Niemand konnte das nachvollziehen, denn sie war anders als die übrigen Istanoit Ril, das wusste Thalia ebenso gut wie jeder andere des Stammes. Auf die Frage, warum das so war, kannten weder Tarana noch deren Freundin Daia noch irgendjemand sonst, den Thalia bisher getroffen hatte, eine Antwort.
Jeder hatte es mittlerweile stillschweigend akzeptiert, dass sie meist wusste, was man von ihr wollte, noch bevor es ausgesprochen war, oder dass es sich als unmöglich erwies, ein Geheimnis vor ihr zu bewahren. Weil Thalia so außergewöhnlich war, sahen die Stammesmitglieder auch großzügig über solche Eigenheiten wie ihre Abneigung gegen die Jagd hinweg.
Statt Tiere zu jagen, genoss Thalia es, sie in Ruhe zu beobachten – wie dieses Kaninchen vor ihr, das gerade völlig zufrieden einen Grashalm verspeiste. Tiere waren da anders als Menschen, zumindest als die Erwachsenen, das hatte Thalia schon früh gemerkt. Ein Kaninchen zum Beispiel war viel öfter glücklich als ein Mensch – das wusste Thalia, weil sie es in dessen Gedanken gesehen hatte. Vielleicht lag das daran, überlegte Thalia, dass es so einem langohrigen Steppenbewohner genügte, im Gras zu sitzen und seinen Hunger zu stillen, während etwa Tarana oder auch Daia sich nur ganz selten an etwas so sehr freuen konnten, dass es sie von ihren vielen dunklen Gedanken ablenkte. Manchmal schien es ihr, als würde Erwachsenwerden nur bedeuten, einen stetig wachsenden Berg von bösen Erinnerungen in sich aufzutürmen. Darauf konnte sie gut verzichten.
In dem Gebüsch, in dem sie auf der Lauer lag, knacksten plötzlich ein paar Zweige. Das Kaninchen machte einen Satz senkrecht in die Höhe und rannte dann hakenschlagend, so schnell es konnte, in die Deckung des nahen Wäldchens. Thalia nahm ein Gefühl des Bedauerns gemischt mit Verwunderung wahr und verdrehte die Augen.
›Du bist einfach zu ungeschickt, Arlion‹, dachte sie und sah tadelnd auf den kleinen Jungen herab, von dem diese Gefühle ausgingen. Er war unmittelbar neben ihr auf einige Zweige geplumpst und hatte dadurch das Kaninchen verjagt. Glänzende braune Augen blickten ihr daraufhin schuldbewusst aus dem runden Gesicht entgegen und er ließ sie spüren, dass ihm sein Missgeschick leidtat und er es nicht absichtlich getan hatte. Das war Thalia natürlich bereits vorher klar gewesen und eigentlich hatte sie Arlion auch gar nicht schelten wollen. Aber wie das eben so war mit Gefühlen oder Gedanken, sie entstanden einfach in ihrem Kopf und es fiel ihr immer noch schwer, etwas, das sie gerade dachte, vor ihrem Geistbruder zu verbergen.
Während Thalia Arlion so vor sich sitzen sah, dachte sie an den Tag, an dem ihr Bruder geboren wurde: Es war bitterkalt und der Wind pfiff heulend durchs Lager. Das Innere des Zeltes, in dem sie saß, war erfüllt gewesen von warmem Halbdunkel, dem schweren Duft von Kräutern und – Taranas Schreien. Ihre Mutter lag in einem abgetrennten Bereich, hatte schreckliche Schmerzen und Thalia konnte ihr nicht helfen. Und dann, irgendwann, waren völlig neue Empfindungen in ihr Bewusstsein gedrungen. Nicht solche, die sie von den anderen Menschen um sie herum kannte – undeutlich und manchmal verwirrend. Nein, diese Gefühle, die sie damals empfing, waren ganz anders gewesen, glasklar, so als entstammten sie ihrem eigenen Kopf. Seine Wut war das Erste, was sie von ihrem Bruder wahrnahm, sein erstes Lebenszeichen, noch bevor er zu schreien anfing und noch bevor sie ihn das erste Mal zu Gesicht bekam. Von diesem Moment an fühlte sie sich nicht mehr allein. Es gab jetzt noch jemanden, der so war wie sie, das wusste sie in jenem Augenblick sofort. Und auch Arlion schien das gespürt zu haben. Wann immer Thalia von da an in seiner Nähe
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