Goettersterben
Respekt ein.
Andrej versuchte Abu Duns Blick einzufangen, aber es gelang ihm nicht. Der Nubier starrte an ihm vorbei ins Leere. Sein Gesicht war wie eine aus schwarzem Stein gemeißelte Maske.
»Nehmt ihm die Fesseln ab«, befahl Andrej.
»Bist du verrückt?«, entfuhr es dem Narbigen. »Sieh dir den Mann doch an! Er ist stark wie ein Ochse! Ich werde diesen Riesenkerl ganz bestimmt nicht losbinden!« Diesmal spürte Andrej, wie ernst es seinem Gegenüber war. Und er spürte auch das Misstrauen des Mannes. Vermutlich hätte er ihn zwingen können, seinem Befehl zu folgen und Abu Dun loszubinden, aber dieses Risiko erschien ihm zu groß. Zusammen mit dem Narbengesichtigen hielten sich mehr als ein Dutzend bewaffneter Soldaten auf dem Podest auf. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, diesen Irrsinn zu überleben, dann nur, wenn er den Vorteil der Überraschung nutzte.
»Ganz, wie du meinst«, sagte er achselzuckend, wandte sich zu Abu Dun um und zeigte mit dem Finger zu Boden. »Knie dich hin, Pirat.«
In Abu Duns Gesicht rührte sich kein Muskel, aber in seinen Augen blitzte ein winziger Funke des Verstehens auf und erlosch wieder, bevor irgendjemand außer ihm selbst ihn sehen konnte. Wortlos legte er den letzten Schritt bis zu dem monströsen Hackklotz zurück, ließ sich davor auf die Knie fallen und beugte das Haupt, bis seine Stirn das blutgetränkte Holz berührte. Das Johlen und Applaudieren des Mobs wurde lauter.
Als Andrej die Axt hob, verstummte es, und fast atemlose Stille legte sich über den Platz.
Andrej ergriff den Axtstiel mit beiden Händen, schwang die Waffe hoch über den Kopf und legte all seine gewaltige Kraft in den Hieb, mit dem er sie niedersausen ließ. Die doppelte Axtklinge verwandelte sich in einen silberfarbenen Blitz, der auf Abu Duns Nacken herunterfuhr … und im allerletzten Moment seine Richtung änderte. Statt den Nubier zu enthaupten, fuhr die Klinge dicht über seinem gebeugten Rücken entlang, zerschmetterte Abu Duns Handfesseln und änderte dann noch einmal ihre Richtung, um auch noch die Kette zwischen seinen Fußgelenken zu zertrümmern. Funken stoben, und es roch nach Blut – er musste Abu Dun verletzt haben –, und der Nubier sprang mit einer einzigen, fließenden Bewegung auf die Beine und wirbelte herum, noch bevor irgendjemand außer Andrej und ihm selbst begriff, was geschah. Vielleicht war es der Narbengesichtige, der als Erster verstand – möglicherweise hatte er insgeheim mit einem Angriff gerechnet –, doch nun nutzte ihm dieses Wissen nichts mehr: Seine Hand fuhr zum Schwertgriff an seinem Gürtel, und noch bevor er die Bewegung auch nur halb zu Ende gebracht hatte, hatte Abu Dun ihn schon gepackt, riss ihn so mühelos in die Höhe, als wäre er nicht schwerer als ein Kind, und schleuderte ihn auf die beiden Männer, die hinter ihnen standen. Irgendwie gelang es ihm, noch in der Drehung den Säbel des Narbigen an sich zu bringen. Andrej fuhr herum, riss die Axt aus dem gesplitterten Holz und war mit einem einzigen Satz bei den anderen Gefangenen.
Es war, als würde die Zeit stillstehen. Niemand hatte sich gerührt. Niemand blinzelte auch nur, und wohin Andrej auch sah, blickte er in weit aufgerissene, verständnislose Augen und sah offen stehende Münder. Dann schrie irgendwo in der Menge hinter ihm eine Frau, und das Geräusch brach den Bann.
Noch bevor Andrej den ersten Gefangenen erreichte, brach auf dem gesamten Platz Panik aus, aber er verschwendete nicht einmal einen Blick darauf, sondern stürmte weiter, stieß einen Soldaten so wuchtig aus dem Weg, dass er vom Podest geschleudert wurde und in die auseinanderspritzende Menge stürzte, und schwang seine Axt. Die Klinge durchtrennte die Handfesseln des ersten Gefangenen und traf im Aufwärtsschwung auch noch mit der flachen Seite einen weiteren Soldaten, der bewusstlos zu Boden ging, und das war anscheinend Warnung genug für alle anderen. Nur ein einziger Mann versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, und bezahlte diesen Versuch mit dem Leben, dann hatte er Rodriguez erreicht, warf die Axt in hohem Bogen davon und zerriss die Fesseln des Colonels mit bloßen Händen. Rodriguez starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an; beeindruckt, aber nicht im Geringsten überrascht.
Das alles geschah in der ersten Sekunde.
In der zweiten griff die Panik unter den Zuschauern noch mehr um sich. Irgendetwas traf das Podest mit solcher Wucht, dass die ganze Konstruktion bedrohlich zu schwanken begann, und einer der
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