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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Maßstäbe.
Unglückseligerweise hatte er keine andere Wahl, wenn er Abu Duns Leben retten wollte.
Andrej betrachtete die Männer, die jetzt murrend, aber dennoch mit militärischer Präzision und sehr schnell rings um ihn herum Aufstellung nahmen und ihre Musketen schulterten, noch einmal und mit anderen Augen und fragte sich, wie viele von ihnen noch am Leben wären, wäre er in die Falle getappt, die Loki für ihn vorbereitet hatte. Nicht viele, vermutete er, aber einige doch. Wie es aussah, verdankte er Rodriguez’ Adjutanten sein Leben. Er war gut, und er hatte sich schon gegen eine größere Übermacht behauptet. Aber diese Männer waren keine Paradesoldaten wie Bresto, sondern Männer, die ihr Handwerk verstanden. Sie hätten ihn besiegt; wenn auch um den Preis der meisten ihrer Leben.
»Señor?« Der Soldat mit der Narbe sprach ihn erneut an, und obwohl er es in durchaus respektvollem Ton tat, klang er jetzt auf eine fordernde Art ungeduldig. Andrej wiederholte zwar sein stummes Kopfnicken, wandte sich aber dann demonstrativ um und deutete auf den Richtplatz.
»Bringt zuerst die Gefangenen«, sagte er. »Die Leute haben lange genug gewartet. Sie haben ein Anrecht auf ein anständiges Schauspiel.«
Einen Moment lang fragte er sich, ob er es damit vielleicht übertrieben hatte. Sein Vorschlag entsprach nicht den Befehlen, die der Narbige bekommen hatte, das sah er ihm an. Doch schließlich nickte er.
»Gut. Aber bringt es zügig zu Ende. Das hier dauert schon länger als geplant, und meine Männer und ich wollen noch etwas von der Parade mitbekommen.« Andrej antwortete vorsichtshalber nicht, und der Soldat beließ es zu seiner Erleichterung nur bei einem abschließenden ärgerlichen Blick. Die Hälfte seiner Leute wandte sich um und verschwand im Laufschritt, und auch Andrej verschränkte die Arme vor der Brust und tat so, als betrachte er interessiert die blutrünstige Menge. Irgendwo unter ihnen waren auch Gordon und seine Männer, aber es war unmöglich – selbst für ihn –, sie zu erkennen. Sehr viele der Schaulustigen trugen mittlerweile das Blau und Weiß der spanischen Marine. Die große Parade, von der Gordon erzählt hatte, war noch immer nicht zu Ende, aber der Diensteifer der meisten Beteiligten schien bereits merklich nachzulassen. »Wie oft hast du das schon getan?«
Andrej begriff im ersten Moment den Sinn dieser Frage nicht. Und auch der sonderbare Blick, mit dem ihn der Soldat mit der Narbe maß, als er sich ihm erneut zuwandte, gab ihm Rätsel auf.
»Oft genug«, entschloss er sich schließlich zu antworten. Dann verbesserte er sich: »Zu oft.« Anscheinend war es das, was der Mann hatte hören wollen. Aus dem latenten Misstrauen in seinem Blick wurde jedenfalls eine Mischung aus Mitleid und Verachtung.
»Dann solltest du dich anstrengen, um alles richtig zu machen«, fuhr der Soldat fort. »Du weißt, was du den Leuten schuldig bist.«
Aus seinen bisher widersprüchlichen Empfindungen dem Mann gegenüber wurde blanke Verachtung, als Andrej begriff, dass der Soldat diese Worte bitter ernst gemeint hatte. Es ging ihm um nichts anderes als darum, der blutrünstigen Menge das Schauspiel zu liefern, nach dem sie schrie, und darum, zusammen mit seinen Männern möglichst schnell in die nächste Gaststube zu kommen oder ins Bett der nächsten Hure. Zum ersten Mal war er froh, die schwarze Henkersmaske zu tragen, sodass der Mann den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen konnte.
Wieder verging Zeit – nicht einmal viel, aber sie kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor –, doch schließlich kam Bewegung in die Szenerie. Die Anzahl der Fackeln, die den Richtplatz säumten, nahm plötzlich auf das Doppelte zu, und gleichzeitig begann eine Trommel zu schlagen. Für einen winzigen Moment senkte sich Stille über die Menge, als hielten all diese hunderte und aberhunderte Menschen den Atem an, dann erhob sich freudiges Gemurmel, das gleich darauf in einen johlenden Chor umschlug. Es wurde gelacht, gepfiffen und applaudiert, als sich auf der anderen Seite des Platzes eine Tür öffnete, Soldaten heraustraten und einen lebenden Korridor bildeten, der bis zu dem hölzernen Podest führte. Das Schlagen der Trommel wurde lauter, hämmernder und zugleich düsterer, dann wuchs das Stimmengewirr endgültig zu einem Kreischen und begeistertem Klatschen und Füßestampfen an, als die Gefangenen aus dem Haus geführt wurden. Andrej hielt instinktiv den Atem an und musste sich beherrschen, nicht unter den Mantel

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