Goettersterben
zu greifen und die Hand um Gunjir zu schließen.
Die Männer schlurften in einer langen Reihe, mühsam und gebückt. Ihre Hände waren auf den Rücken zusammengebunden, und ein weiterer, kurzer Strick fesselte ihre Fußgelenke aneinander, sodass sie nur kurze, trippelnde Schritte machen konnten. Die meisten hielten die Köpfe gesenkt, und der eine oder andere kämpfte darum, die Tränen zurückzuhalten oder hatte diesen Kampf auch bereits verloren.
Mit jeder Gestalt, die aus der Tür trat, wurde das Johlen der Menge lauter und begeisterter, und als die beiden letzten Delinquenten erschienen, wuchs der Lärm zu einem regelrechten Orkan an, unter dem der ganze Platz erbebte.
Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der eine war mittelgroß und von eher schlankem Wuchs, hatte schulterlanges weißes Haar und trug eine tadellos sitzende Marineuniform mit goldfarbenen Epauletten, der andere war ein wahrer Riese, an die sieben Fuß groß und vollkommen in Schwarz gekleidet. Der ebenfalls schwarze Turban, den er gewöhnlich trug, war verschwunden, sodass Abu Duns glänzend schwarzer Kahlkopf zum Vorschein kam. Sowohl auf seinem Schädel als auch auf seinem Gesicht war eingetrocknetes Blut zu sehen, aber seine Züge zeigten nicht einmal die Spur einer Regung. Er war auf die gleiche Art an Händen und Füßen gefesselt wie die anderen, nur nicht mit Stricken, sondern mit schweren Ketten, die massiv genug aussahen, selbst seinen gewaltigen Kräften zu trotzen, brachte aber dennoch das Kunststück fertig, sich einigermaßen würdevoll zu bewegen, statt wie alle anderen albern dahinzutrippeln. Es fiel Andrej immer schwerer, ruhig dazustehen. Aber wenn er jetzt etwas unternahm, dann war es nicht nur um Abu Dun geschehen, sondern auch um ihn.
Sein narbengesichtiger Begleiter nickte auffordernd, und Andrej setzte sich gemessenen Schrittes in Bewegung. Auch die Soldaten, die seine Eskorte bildeten, hatten nun Fackeln entzündet und benutzten sowohl sie als auch die Kolben ihrer Musketen (und auch schon einmal ihre Bajonette), um für sich und Andrej eine Gasse durch die Menschenmenge zu bahnen. Sie kamen trotzdem kaum von der Stelle. Rücksichtslos, wie die Männer vorgingen, versuchten die Menschen ihnen Platz zu machen, aber wohin sollten sie gehen, wenn es nichts gab, wohin sie ausweichen konnten? Selbst Andrej, der von den Männern abgeschirmt wurde, so gut es ging, wurde mit Rippenstößen und immer wüster werdenden Flüchen und Verwünschungen bedacht.
Das Schlimmste aber waren die Blicke, die ihn trafen. Die spitze Kapuze, die er übergestreift hatte, verbarg sein Gesicht zuverlässig, aber er spürte dennoch die Mischung aus Furcht, perverser Bewunderung und Abscheu, die all diese Menschen dem Henker entgegenbrachten, in dessen Maske er auftrat; und erneut empfand er tiefste Verachtung. Er verstand die Menschen immer weniger. Wenn er ehrlich war, hatte er das nie getan. Sie waren so verwundbar und zerbrechlich, und ihre Leben so kurz, und dennoch schien ihre Begeisterung für Tod und Gewalt keine Grenzen zu kennen. Vielleicht, dachte er – und auch das nicht zum ersten Mal, aber vielleicht zum allerersten Mal im Ernst –, vielleicht hatte er ja all die Jahre hinweg die falschen Monster gejagt. Die Wesen, die Abu Dun und er in so großer Zahl zur Strecke gebracht hatten, mochten grausam und gnadenlos sein, aber sie töteten nur, um zu leben. Jetzt blickte er in Gesichter, in denen die blanke Blutgier geschrieben stand. All diese Menschen, die sonst ganz normale Einwohner dieser Stadt waren, Handwerker und Händler, liebende Mütter und fürsorgliche Väter und Ehemänner, schienen sich plötzlich in mordlüsterne Bestien verwandelt zu haben, die nur den Tod um seiner selbst willen sehen wollten. Sie lechzten nach Blut, und es war ihnen gleich, wessen Blut es war und aus welchem Grund es vergossen wurde. Zum ersten Mal fragte sich Andrej, ob sie all die Jahrzehnte und Jahrhunderte des Kämpfens und Tötens wert waren; ob alles umsonst gewesen war.
Und vielleicht würde sich etwas ändern, wenn das hier vorüber war und sie es überlebten. Vielleicht würde er nicht mehr derselbe sein.
Obwohl ihr Weg kürzer war als der, den die Gefangenen zurücklegen mussten, erreichten sie den Richtplatz erst lange, nachdem die aneinandergebundenen Delinquenten auf das hölzerne Podest hinaufgezerrt worden waren. Einer der Männer versuchte im letzten Moment, ebenso sinnlos wie verzweifelt Widerstand zu leisten, und
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