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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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war nicht sein Problem.
Abu Dun und er waren hier, um einer viel größeren Gefahr zu begegnen als einer lächerlichen Kriegsflotte. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Abu Dun wieder zu seinem Kistenstapel zurücktrottete, winkte ihm flüchtig zu und verfolgte noch einige Momente lang das Treiben an Deck des Schiffes, bevor auch er kehrtmachte. Er fühlte sich nicht besser, aber auch noch nicht so schlecht, Abu Dun den Triumph zu gönnen, die allerletzte Kiste an seiner statt an Bord zu tragen.
Als er den Stapel fast erreicht hatte, schoss plötzlich eine zerlumpte Gestalt vor, schnappte sich wahllos eine der prall gefüllten Kisten und schulterte sie, um unter ihrer Last gebeugt davonzuwanken.
Allerdings in die falsche Richtung.
Es dauerte eine halbe Sekunde, bis Andrej begriff, dass der Bursche keineswegs gekommen war, um Abu Dun und ihm zu helfen, sondern um zu stehlen. Verblüfft von so viel Dreistigkeit, schrie er wütend: »Heda! Was fällt dir ein?«, und setzte ihm mit weit ausgreifenden Schritten nach.
Der Dieb rannte ebenfalls, und in Anbetracht der enormen Last, die er gerade stibitzt hatte, sogar erstaunlich schnell.
Nicht, dass ihm das irgendetwas nutzen würde. Krank oder nicht, Andrej folgte fünfmal schneller, als der Bursche vor ihm flüchtete, flankte über den zusammengeschmolzenen Frachtstapel hinweg und fragte sich in dem kurzen Augenblick, den er für diesen Sprung brauchte, was zum Teufel er hier eigentlich tat. Nichts von diesen Sachen gehörte ihm, und in der Armada würde keine Hungersnot ausbrechen, wenn eine Kiste mit Rüben oder Schießbaumwolle fehlte.
Doch dann setzte er auf der anderen Seite auf, und der stechende Schmerz, den die Erschütterung in seinem verletzten Auge auslöste, lieferte ihm den Grund für die Verfolgung: Just in diesem Moment brauchte er dringend jemanden, an dem er seine schlechte Laune auslassen konnte.
Der unglückselige Bursche, hinter dem er her war, schien dies wohl zumindest zu ahnen, denn er sah sich in diesem Moment um, fuhr erschrocken zusammen, ließ seine (vermutlich ohnehin nahezu wertlose) Beute fallen und setzte zu einem verzweifelten Spurt an, sodass auch Andrej beschleunigen musste. Immerhin würde es dem Dieb durch diese Anstrengung möglicherweise gelingen, die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens um beinahe eine Sekunde zu verzögern, dachte Andrej.
Doch während Andrej die Entfernung zwischen sich und dem untalentiertesten Dieb Cádizs mit einem einzigen Satz halbierte, fiel ihm auf, dass die Gasse, die noch am Morgen hinter einem gut drei Meter hohen Stapel aus Kisten und Säcken verborgen gewesen war, nur knappe zwei Dutzend Schritte lang war und vor einer fensterlosen Wand endete, in der es nur eine einzige, schmale Tür gab. Der Bursche sprintete darauf zu, als ginge es um sein Leben, und wäre Andrej ein normaler Mensch gewesen, dann hätten seine Chancen nicht einmal schlecht gestanden, sie zu erreichen, bevor er ihn eingeholt hatte.
Auf einmal von einer unguten Ahnung erfasst, lief Andrej langsamer, blieb schließlich stehen und ließ es zu, dass der Bursche die Tür erreichte und in der fast völligen Dunkelheit dahinter verschwand.
Verwirrt – und plötzlich misstrauisch geworden – sah Andrej über die Schulter zurück und maß die Reste des zusammengeschmolzenen Kistenstapels mit nachdenklichen Blicken. Vor ein paar Stunden noch hatten die Kisten eine mehr als mannshohe, kompakte Mauer gebildet, deren Rückseite vom Kai aus nicht einsehbar war, nicht einmal von einem der höher gelegenen Schiffsdecks aus. Doch das bedeutete, dass sich jeder, der durch diese Tür kam, nach Belieben daran hatte bedienen können. Warum also war der Bursche das Risiko eingegangen, jetzt noch eine wertlose Kiste zu stehlen und dabei womöglich ertappt zu werden? Entweder war er dumm, oder er wollte , dass ihn jemand sah. Andrej bedachte beide Alternativen einige Sekunden lang gründlich, kam zu dem Ergebnis, dass sie einander keineswegs ausschlossen, und setzte seinen Weg dann langsamer fort. Der Dieb hatte die Tür hinter sich nicht geschlossen, aber selbst Andrejs scharfe Augen erkannten dahinter nichts als Schwärze.
Dafür verriet ihm sein Gehör umso mehr. Der Raum hinter der Tür war nicht leer. Er identifizierte die Atemzüge von drei, vielleicht von vier Männern, die irgendwo in der Dunkelheit verborgen lauerten, und als er näher herankam, hörte er das Rascheln von Kleidung und ein leises, aber charakteristisches Scharren. Metall.

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