Goettersterben
dieses Ungeheuer in Menschengestalt ein Ehemann und möglicherweise sogar ein liebevoller Familienvater sein könnte, erschien ihm … absurd. Und doch war es so. Auf dem Boden lag Kinderspielzeug, und als er sich konzentrierte, konnte er nicht nur die Stimmen des Scharfrichters und seiner Frau verstehen, die sich ausgelassen über etwas unterhielten, was ihnen de Castello in Aussicht gestellt hatte, sondern auch die leisen Atemzüge zweier Kinder, die in einem anderen Teil des Hauses schliefen.
Andrej setzte dazu an, die Tür hinter sich zu schließen, besann sich dann eines Besseren und lauschte noch einmal und aufmerksamer. Nach nur wenigen Sätzen begriff er: Die Frau hatte keine Ahnung, wer ihr Mann wirklich war, sondern wähnte sich mit einem Beamten der Stadtverwaltung verheiratet, der im Moment alle Hände voll damit zu tun hatte, den überforderten Militärs mit der Organisation von viel zu vielen Schiffen in einem viel zu kleinen Hafen zu helfen.
Das allein war nicht einmal ungewöhnlich. Die Wenigsten wussten, dass die traditionellen schwarzen Henkersmasken zwar auch dem Zweck dienten, Delinquenten und Zuschauer einzuschüchtern, sehr viel mehr aber dem, die Identität des Henkers zu verschleiern, um ihn vor Racheakten und Anfeindungen zu schützen und ihm ein nach außen hin normales Leben zu ermöglichen. Dass nicht einmal seine eigene Frau wusste, wer er wirklich war, war schon ungewöhnlicher. Andrej schlüpfte wieder in den Garten hinaus, um die Tür von außen zuzuziehen. Er hatte vorgehabt, dem Henker wenigstens ein bisschen von seiner eigenen Medizin zu schmecken zu geben und ihn kurzerhand niederzuschlagen und zu fesseln, um dann in aller Ruhe abzuwarten, bis der Vampyr erschien, was zweifellos der Fall sein würde, noch bevor die Nacht zu Ende war. Aber jetzt konnte er das nicht mehr. Es waren die Frau und die beiden Kinder, die ihm leid taten, wenn sie erfuhren, was für ein Ungeheuer sich hinter der Maske des treu sorgenden Ehemannes und liebenden Vaters verbarg. Früher oder später würden sie es erfahren, aber nicht jetzt und nicht von ihm.
Andrej ließ seinen Blick noch einmal prüfend durch den kleinen Garten wandern, entschied sich für einen halbhohen, aber sehr dicht wachsenden Olivenbaum und huschte in seinen Schatten. Nicht einmal ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte ihn jetzt noch entdeckt, und dieses Versteck war so gut wie jedes andere. Wenn sich der angebliche Kriegsgefangene dem Haus näherte, würde er seine Präsenz spüren, lange bevor er sein Ziel erreicht hatte, und darüber hinaus war Andrej sicher, dass er nicht durch die Vordertür eindringen würde, sondern auf demselben Weg wie er.
Während Andrej sich in den Schatten des Olivenbäumchens schmiegte und sich innerlich auf eine womöglich sehr lange Wartezeit vorbereitete, stellte er sich zum ersten Mal eine Frage, die er bisher sorgsam gemieden hatte: Was sollte er tun, wenn der Vampyr wirklich erschien? Der Henker hatte weit mehr getan als nur seine Arbeit, sondern den Mann unnötig und grausam lange gequält. Wäre es anders herum gewesen und er, Andrej, hätte das Schicksal des vermeintlichen Kriegsgefangenen erlitten, dann wäre der Henker von Cádiz jetzt schon nicht mehr am Leben. Aber so war es nicht, und dieser namenlose Vampyr war nicht sein Feind.
Andrej entschied, diese Entscheidung auf später zu verschieben – nachdem er dem Vampyr die eine oder andere Frage gestellt und sich davon überzeugt hatte, dass dieser auch wahrheitsgemäß antwortete –, glitt in eine etwas bequemere Haltung und versuchte noch einmal, dem Gespräch im Haus zu folgen, und erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er nur noch die Atemzüge eines Kindes im Haus hörte.
Erst dann fühlte er die Präsenz des Vampyrs.
Andrej stieß den unflätigsten Fluch aus Abu Duns ohnehin beeindruckender Sammlung orientalisch-blumiger Beleidigungen aus, erwachte aber auch im gleichen Sekundenbruchteil aus seiner Erstarrung und war mit drei, vier gewaltigen Sätzen bei der Tür und mit einem fünften hindurch, ohne dass er Zeit damit verschwendet hätte, sie zu öffnen. Über ihm verstummte die Stimme des Scharfrichters mit einem erschrockenen Keuchen, und noch bevor die Trümmer der in Stücke geschlagenen Tür hinter ihm zu Boden gefallen waren, hatte Andrej die Küche durchquert und raste in den angrenzenden schmalen Flur hinaus. Gunjir sprang wie von selbst in seine Hand, noch bevor er die steile Treppe erreichte und mit drei gewaltigen
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