Göttin der Rosen
saßen Frauen mit großen Stickrahmen, führten ihre Nadeln flink und mit geübten Händen durch den Stoff und erschufen wahrhaft auserlesene Wandteppiche. Wie üblich begrüßten die Frauen ihre Empousa freundlich, und diesmal ignorierten sie auch Asterius nicht.
»Wächter, hast du uns Garn mitgebracht?«, fragte eine der älteren Frauen mit sachlich-nüchterner Stimme.
»Nein, ich habe nichts bei mir, denn ich habe heute Abend die neue Empousa durch die Traumweberinnen-Räume geführt«, erwiderte er.
»Empousa, bitte haltet mich nicht für unhöflich, aber es ist sehr wichtig, dass der Wächter uns neues Garn bringt – und zwar noch heute Abend, wenn Ihr ihn so lange entbehren könntet. Während er …« Einen Moment zögerte die Frau, dann fuhr sie fort: »… während er nicht im Reich war, mussten wir uns mit dem Garn zufriedengeben, das die Elementare gesammelt haben. Es hat gereicht, war aber extrem knapp.«
»Die Wandteppiche beginnen zu zerfasern«, fügte eine etwas jüngere Frau mit einem blonden Wuschelkopf hinzu, den sie zu einem Zopf zurückgebunden hatte. Einige von den anderen nickten zustimmend.
Wieder einmal völlig verwirrt, unterdrückte Mikki ein frustriertes Seufzen. »Selbstverständlich gebe ich den Wächter frei, damit er, äh, damit er Garn für euch sammeln kann. Wir wollten nach diesem Raum sowieso Schluss machen.«
»Oh, wir danken Euch, Empousa!«
Mikki wehrte ihren Dank ab und verließ den Raum, Asterius folgte dicht hinter ihr.
»Na gut, das musst du mir jetzt aber erklären«, sagte sie draußen.
»Ist Euch nichts Besonderes aufgefallen in diesem Zimmer?«
Stirnrunzelnd sah sie ihn an, denn es gefiel ihr nicht, dass er ihre Frage mit einer Gegenfrage beantwortete. Aber dann fielen ihr die Szenen ein, an denen die Frauen gestickt hatten. Dabei war eine gewesen, in der eine Mutter ein Neugeborenes im Arm hielt. Eine andere hatte einen Mann gezeigt, der vor einer großen Menschenmenge sprach, und eine weitere eine Frau, die an einem Schreibtisch saß und nachdenklich an ihrem Stift kaute. Mikki zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Mir kam alles ganz normal vor.«
»Das kommt daher, dass die Träume, die in diesem Raum zu Wandteppichen verarbeitet werden, diejenigen sind, die wahr werden.«
»Du meinst, sie werden Wirklichkeit? Die Szenen, die diese Frauen erschaffen, passieren dann tatsächlich in der realen Welt?«
»Ja, immer.« Er nickte.
»Deshalb brauchen sie ein anderes Garn.« Mikki sprach langsam, folgte sorgfältig ihrer Intuition, als wäre diese ein schwach beleuchteter Pfad. »Das Material, das die Mondblumen einsaugen, reicht für ihre Arbeit nicht. Träume, die wahr werden, brauchen noch etwas anderes … etwas Reales.«
Zufrieden sah er sie an. »Genau! Träume, die wahr werden, müssen mit Fäden durchwoben werden, die in der Wirklichkeit gesammelt wurden.«
»Und du kannst diese Fäden sammeln?«
Er nickte. »Ja, das kann ich.«
»Zeigst du es mir?«
Er wollte protestieren, dass es zu spät und dass sie müde war, aber sie berührte sanft seinen Arm und sagte: »Bitte, Asterius.«
»Nun gut. Dann folgt mir.«
»Wohin gehen wir?«
»Zum Rosengarten«, antwortete er und führte sie zurück durch den Korridor.
»Gehen wir in den Wald?« Ihre Hand griff fester um seinen Arm.
»Ja, das müssen wir. Realität kann nicht im Reich der Träume und der Magie gesammelt werden.« Kurz legte er seine Hand auf ihre. »Habt keine Angst. Ich sorge dafür, dass Euch nichts zustößt.«
Sie lächelte zu ihm empor. »Ich habe keine Angst. Nicht, wenn du bei mir bist.«
Bei Nacht fand Mikki das riesige Rosentor verdammt unheimlich. Es half auch nicht, dass Fackeln brannten und Laternen an den Ästen der alten Eiche hingen. Es war trotzdem dunkel, und die Rosenmauer kam ihr vor wie etwas aus einem Märchenbuch oder aus den grandiosen Fantasy-Romanen der britischen Schriftstellerin Tanith Lee, deren Märchenerzählungen Mikki sehr gern las. Aber sie hatte keine Lust, in ihnen herumzuwandern. Nicht die geringste.
»Ihr könnt gern hier warten«, schlug Asterius vor. »Dann gehe ich in den Wald, sammle die Fäden ein und komme zurück, so schnell ich kann.«
»Nein! Ich bleibe nicht allein hier, ich komme mit.«
Mikki hakte sich bei ihm unter, und er nahm die Fackel, die am Tor im Boden steckte. Nachdem er den Befehl ausgesprochen hatte, der das Tor öffnete, traten sie hindurch und wanderten nebeneinander aus dem Reich der Rose.
Mikki schauderte. »Hier
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