Göttin der Rosen
bitte ich Euch, Hekate, bei mir zu sein bei dem, was ich nun vorhabe, wenn das irgendwie möglich ist. So sei es«, flüsterte Mikki.
Entschlossen verließ sie den Tempel und ging zu dem Brunnen, dessen Wasser das Reich versorgte. Der anmutige Brunnen war wirklich sehr hübsch. Aus riesigen Marmorschalen floss das Wasser in ein großes Bassin und verteilte sich von dort in lange Rinnen, die sich nach allen Richtungen verzweigten. Mikki tauchte die Hand ins Wasser und war überrascht, dass es angenehm warm war. Seltsamer Zufall , dachte sie, während sie ihren Chiton ablegte und ordentlich zusammengefaltet neben sich auf den Boden legte. Nein, es gibt hier nur selten Zufälle. Ich nehme es einfach als Abschiedsgeschenk der Göttin. Nackt, mit nichts als der Gartenschere in der Hand, stieg sie in den Brunnen.
Das Wasser hieß sie willkommen, und sie setzte sich in das Becken, das so tief war, dass sie fast bis zu den Schultern von dem klaren, warmen Wasser bedeckt war. Bring es hinter dich. Schnell. Es wird nur eine Sekunde lang wehtun .
Sie hob die linke Hand, öffnete die Schere, drückte die Klinge an ihre Haut, schloss die Augen, setzte mit einer raschen Bewegung den Schnitt und sog scharf die Luft ein, als ein stechender Schmerz durch ihren Arm fuhr. Dann nahm sie die Schere in die andere Hand, wiederholte den Vorgang etwas ungeschickter, aber ebenso effektiv und schob die Schere dann über den Brunnenrand. Als sie die Handgelenke ins Wasser gleiten ließ, zuckte sie unwillkürlich zusammen, aber es stimmte – der Schmerz war nicht schlimm und ließ schnell nach. Sie lehnte den Kopf an den Beckenrand, blickte hinauf zum Himmel und dachte, wie richtig es sich anfühlte, dass der Mond schon unter- und die Sonne noch nicht aufgegangen war. Hekate … Göttin des Schwarzen Mondes. Vielleicht war die Lichtlosigkeit ein Zeichen, dass die Göttin ihr Opfer annahm und billigte. Sie hatte richtig gehandelt. Die Rosen würden leben. Die Träume der Menschheit würden in Sicherheit sein, und ihre große Liebe ebenfalls. Mikki schloss die Augen. Sie wurde schläfrig, und das Wasser war so … weich … wie ein Federbett … ein Floß auf einem warmen Sommersee … die Arme ihrer Mutter, als sie noch ein kleines, ängstliches Mädchen war und einen schlechten Traum gehabt hatte. Sie seufzte. Es sollte keine schlechten Träume geben … nur Liebe und Schönheit und Rosen.
Sie hatte keine Angst. Aber sie würde Asterius vermissen. Als ihr langsam das Bewusstsein schwand, war Mikkis letzter Gedanke, wie sehr sie ihn liebte.
Asterius schreckte aus dem Schlaf empor. Irgendetwas stimmte nicht. Wie immer schüttelte er den Schlaf schnell ab, setzte sich auf und griff auch schon nach seinen Kleidern. Dann wollte er Mikki wecken, drehte sich um und …
Sie war nicht da. Zuerst machte er sich keine Sorgen, vielleicht war sie ja im Bad. Rasch warf er seine Tunika über und eilte durch den Tunnel. Aber auch hier war sie nicht. Schlimme Vorahnungen beschleunigten seine Schritte, als er die anderen Zimmer nach ihr absuchte. Nirgends eine Spur von Mikado. Er legte seinen Brustharnisch an und verließ die Höhle. Die Sonne war bereits aufgegangen, aber es war noch früh am Morgen. Eine ungewöhnlich warme Brise wehte von den Gärten herüber …
Asterius blieb stehen und schnupperte. Ja, er hatte sich nicht geirrt, der Wind trug den reichen, berauschenden Duft blühender Rosen heran. Der Wächter legte noch einen Schritt zu und erreichte im Handumdrehen die Gärten.
Über und über blühten die Rosen. In prachtvollen Farben prangten die Beete, als hätte die Göttin das Reich mit einem göttlichen Pinsel bemalt – lebendig und gesund. Aber statt Erleichterung und Glück durchdrang Asterius plötzlich eine große Angst. Seinem Instinkt folgend, rannte er los.
Hekates Tempel war in Sicht, als er den ersten Klageschrei hörte, und eine eiskalte Faust legte sich um sein Herz. Dann folgte dem ersten Schrei ein zweiter, ein dritter und so fort, bis die Gärten von Wehklagen widerhallten.
Nein !, schrien seine Gedanken, noch ehe er wusste, was er gleich entdecken würde. Mit donnernden Hufen galoppierte er zum Tempel. Die vier Elementare standen neben dem Brunnen, hielten einander in den Armen und weinten. Zwischen ihnen erblickte er eine nasse kupferrote Haarmähne und ein bleiches Profil. Langsam, als bewegte er sich durch Morast, näherte Asterius sich dem Brunnen. Natürlich war sie dort.
Mikado war tot.
Asterius, Wächter des
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