Goettin in Gummistiefeln
Blick entschlossen von der Kamera abgewandt.
»Ohne eine Adresse, ohne jede Hilfe«, höre ich ihn murmeln, »macht sich Samantha Sweeting auf eine lange, ungewisse Reise, um den Mann aufzuspüren, der sie heute Morgen auf so schäbige Weise verlassen hat. Der Mann, der sie ohne ein Wort im Stich ließ. Ob das so klug ist?«
In Ordnung, jetzt reicht‘s mir.
»Vielleicht ist es nicht klug!«, fauche ich ihn an. »Vielleicht werde ich ihn nicht finden. Vielleicht will er ja gar nichts mehr von mir wissen. Aber ich muss es zumindest versuchen!«
Dominic macht den Mund auf, um etwas zu sagen.
»Ach, halten Sie die Klappe«, sage ich. »Halten Sie einfach die Klappe.«
Es scheint Stunden zu dauern, bis wieder ein Zug in der Ferne auftaucht. Aber es ist die falsche Richtung. Es ist noch ein Zug nach London. Er kommt zum Stehen, und ich höre, wie Leute türenknallend ein- und aussteigen.
»Zug nach London!«, ruft der Schaffner. »Zug nach London. Bahnsteig eins.«
Das ist der Zug, den ich nehmen sollte. Wenn ich noch einen Rest von Verstand hätte. Vielleicht habe ich sie ja wirklich nicht mehr alle. Meine Augen gleiten müßig über die Gesichter der Leute an den Zugfenstern, einige unterhalten sich, einige schlafen, einige lesen, andere haben Kopfhörer auf und hören Musik -
Und plötzlich scheint alles mit einem Ruck zum Stillstand zu kommen. Träume ich etwa?
Da ist Nathaniel. Im Zug nach London. Drei Meter von mir entfernt, sitzt er am Fenster und blickt starr vor sich hin.
Was - wieso ist er -
»Nathaniel!« Ich versuche laut zu rufen, aber meine Stimme will nicht, ist wie eine leere Hülse. »Nathaniel!« Ich wedle wild mit den Armen, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
»Mensch, das ist er!«, ruft Dominic aus. »Nathaniel!«, brüllt er mit einer Stimme wie ein Nebelhorn. »Hier, hier drüben, Kumpel!«
»Nathaniel!« Endlich funktioniert meine Stimme wieder. »Na-tha-ni-el!«
Mein verzweifelter Schrei scheint zu ihm durchgedrungen zu sein, denn endlich blickt er auf. Sein Gesicht wird ganz starr vor Erstaunen, als er mich sieht. Schiere Ungläubigkeit macht sich sekundenlang auf seiner Miene breit, dann überzieht sie sich mit blankem Entzücken wie bei einer langsamen Explosion.
Ich höre, wie die Türen zuschlagen. Der Zug fährt gleich los.
»Komm schon!«, brülle ich, verzweifelt gestikulierend.
Ich kann sehen, wie er aufsteht, seinen Rucksack packt und sich an der Frau neben ihm vorbeizwängt. Dann kann ich ihn nicht mehr sehen. Ruckelnd fährt der Zug an.
»Zu spät«, sagt der Kameramann düster. »Das schafft er nie.«
Meine Brust ist wie eingepresst. Ich kann nichts antworten. Ich kann nur hilflos zusehen, wie der Zug an mir vorbeifährt, Waggon für Waggon, immer schneller und schneller ... bis er weg ist.
Und da steht Nathaniel. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig. Er hat es geschafft. Er ist da.
Ohne die Augen von ihm abzuwenden, gehe ich auf die Fußgängerbrücke zu, beginne zu rennen. Nathaniel, auf der anderen Seite, macht dasselbe. Oben auf der Treppe angekommen, machen wir noch ein paar Schritte aufeinander zu, dann bleiben wir stehen, etwa einen Meter voneinander entfernt. Ich keuche, und mein Gesicht fühlt sich ganz heiß an. Ich bin total betreten und glücklich und unsicher, alles auf einmal.
»Ich dachte, du wolltest nach Cornwall«, sage ich schließlich. »Um diese Gärtnerei zu kaufen.«
»Hab‘s mir anders überlegt.« Nathaniel sieht selbst ziemlich betreten aus. »Dachte, ich könnte stattdessen ... eine Freundin in London besuchen.« Er wirft einen Blick auf meinen Koffer. »Wo wolltest du hin?«
Ich räuspere mich. »Ich dachte ... nach Cornwall.«
»Cornwall?« Er starrt mich an.
»Mhm.« Ich zeige ihm meinen Zettel mit den Zugverbindungen und hätte auf einmal nur noch kichern können. Das ist so verrückt.
Nathaniel lehnt sich ans Geländer, die Daumen in die Jeanstaschen gehakt. Sein Blick ist auf die Holzplanken der Brücke gerichtet. »Also ... wo hast du deine Freunde gelassen?«
»Weiß nicht. Die sind weg. Und das sind nicht meine Freunde. Ich hab Guy eine geknallt«, füge ich stolz hinzu.
Nathaniel wirft den Kopf zurück und lacht schallend. »Dann haben sie dich also gefeuert.«
»Ich hab sie gefeuert«, korrigiere ich ihn.
»Echt?« Nathaniel kann es kaum glauben. Er streckt die Hand nach mir aus, aber ich nehme sie nicht. Trotz meiner Freude bin ich immer noch ziemlich verletzt. Das, was heute Morgen passiert ist, lässt
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