Gold. Pirate Latitudes
Er strampelte mit den Beinen, um die Schlinge abzuschütteln, konnte sich aber nicht aus ihr befreien. Es war entsetzlich: Durch die Schlinge war er regelrecht gefesselt. Er konnte die Füße nicht einsetzen, um an der Felswand Halt zu finden, und ihm war klar, dass er einfach so dahängen würde, bis er sich vor Erschöpfung nicht länger halten konnte und abstürzte. Schon jetzt spürte er einen brennenden Schmerz in Handgelenken und Fingern. Das Führungsseil ruckte leicht. Doch sie zogen ihn nicht hoch.
Er begann wieder zu strampeln, mit der Kraft der Verzweiflung, und plötzlich riss ihn eine Böe von der Klippe weg. Die verfluchte Schlinge wirkte wie ein Segel, fing den Wind ein und zog ihn mit. Er sah, wie die Felswand im Nebel verschwand, als er zehn, zwanzig Fuß von der Klippe weggeweht wurde.
Er strampelte erneut, und auf einmal war er leichter – die Schlinge war abgefallen. Sein Körper schwang zurück auf die Klippe zu. Er wappnete sich gegen den Aufprall, der prompt kam und ihm den Atem raubte. Unwillkürlich schrie er auf und hing dann einfach nur da, versuchte, Luft in die Lunge zu saugen.
Endlich zog er sich mit einer letzten ungeheuren Kraftanstrengung hoch, bis seine Hände, die das Seil umklammerten, fest an seine Brust gepresst waren. Er schlang die Beine einen Augenblick lang um das Seil, damit seine Arme sich erholen konnten. Allmählich bekam er wieder Luft. Er stützte die Füße an den Felsen und hangelte sich am Seil hoch. Seine Füße rutschten ab und er knallte mit den Knien gegen den Felsen. Aber er hatte es ein ganzes Stück höher geschafft.
Er hangelte sich weiter und weiter. Sein Verstand hatte ausgesetzt; sein Körper machte alles von selbst, aus eigenem Antrieb. Die Welt rings um ihn wurde lautlos, kein prasselnder Regen, kein kreischender Wind, nichts, nicht einmal sein eigener keuchender Atem. Die Welt war grau, und er war in diesem Grau verloren.
Er merkte es nicht einmal, als kräftige Hände unter seine Schultern fassten und er hochgezogen wurde und mit dem Bauch auf dem flachen Felsen landete. Er hörte keine Stimmen. Er sah nichts. Später erzählten sie ihm, dass sein Körper, nachdem sie ihn auf den Boden gelegt hatten, weitergekrochen war, hoch und wieder runter, hoch und wieder runter, das blutende Gesicht an den Felsen gepresst, bis sie ihn mit Gewalt festhielten. Doch in diesem Augenblick wusste er gar nichts. Er wusste nicht einmal, dass er überlebt hatte. Er erwachte bei hellem Vogelgezwitscher, öffnete die Augen und sah grüne Blätter im Sonnenschein. Er lag ganz still, nur seine Augen bewegten sich. Er sah eine Felswand. Er war in einer Höhle, nah an der Öffnung einer Höhle. Er roch gebratenes Fleisch, einen unbeschreiblich köstlichen Duft, und er wollte sich aufsetzen.
Rasende Schmerzen jagten ihm von Kopf bis Fuß durch den Körper. Keuchend sank er wieder zurück.
»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, sagte eine Stimme. Sanson tauchte hinter ihm auf. »Immer mit der Ruhe.« Er bückte sich und half Hunter, sich aufzusetzen.
Das Erste, was Hunter bemerkte, war seine Kleidung. Seine Hose war völlig zerfetzt, und durch die Löcher konnte er sehen, dass es um seine Haut ähnlich bestellt war. Auch Arme und Brust waren übel zugerichtet. Er betrachtete seinen Körper, als würde er ein fremdes, unbekanntes Gebilde in Augenschein nehmen.
»Euer Gesicht ist auch kein besonders hübscher Anblick«, sagte Sanson und lachte. »Glaubt Ihr, Ihr könnt was essen?«
Hunter wollte antworten, doch sein Gesicht war steif, als würde er eine Maske tragen. Er berührte seine Wange und ertastete eine dicke Blutkruste. Er schüttelte den Kopf. »Nichts essen? Dann Wasser.« Sanson holte ein Wasserfässchen, und mit seiner Hilfe trank Hunter ein wenig. Erleichtert stellte er fest, dass er schmerzlos schlucken konnte, doch sein Mund war taub, denn er spürte das Fässchen an den Lippen nicht. »Nicht zu viel«, sagte Sanson. »Nicht zu viel.«
Die anderen kamen dazu.
Der Jude grinste übers ganze Gesicht. »Ihr solltet Euch die Aussicht ansehen.«
Hunter spürte ein jähes Hochgefühl. Wahrhaftig, er wollte sich die Aussicht ansehen. Er hob einen schmerzenden Arm, und Sanson half ihm auf die Beine. Der erste Augenblick, als er stand, war qualvoll. Ihm wurde schwindelig, und stechende Schmerzen schossen ihm durch Beine und Rücken. Dann wurde es besser. Er stützte sich auf Sanson, biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt. Plötzlich musste er an
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