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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Marktes, den warmen Strahlen der mittäglichen Sonne ausgesetzt, standen Händler mit Fässern voller Pelze und Tierfellen aus Litauen, daneben Kaufleute mit Ballen teurer Stoffe und Rollen bunter Bänder, die als Zierat für Kleider und Haar dienen sollten. Hie und da trieben Gaukler ihre Späße, musizierten Spielleute auf ihren Instrumenten und zeigten Zauberkünstler ihre Fertigkeiten. Mit heiserer Stimme pries ein Quacksalber die Wunderkräfte seiner Tropfen an, ein anderer lud zum Zähneausreißen ein. »Das Ziehen des zweiten Zahnes kostest euch heute keinen Pfennig!«
    »Wohin willst du eigentlich?«, zerrte Agnes unwillig an Gundas Hand. »Jetzt sind wir bald den gesamten Marktplatz abgelaufen, aber nirgendwo scheinen deine Kaufleute zu sein.«
    »Keine Sorge, wir finden sie schon!« Gunda bemühte sich um einen zuversichtlichen Ton. Allerdings war sie selbst verwirrt, die Herren aus Königsberg bislang nirgendwo entdeckt zu haben. Obwohl sie für eine Frau groß war und über viele Köpfe hinweg sehen konnte, reckte sie sich nun doch besorgt auf die Zehenspitzen. Hinten am Rathaus, direkt an der Ecke zur nächsten Gasse, meinte sie, ein bekanntes Gesicht zu entdecken, gleich daneben ein zweites. Sie atmete auf. Wie vereinbart hatten sich die beiden einen Platz gesucht, der aus der Menge herausragte, andererseits aber nicht zu auffällig war. Weder Gunda noch die Kaufleute legten Wert darauf, zusammen gesehen zu werden.
    »Ich weiß, wo sie sind«, rief Gunda erfreut und schaute sich nach Agnes um. Die stand einige Schritte entfernt, dort, wo abenteuerlichste Singvögel feilgeboten wurden. Sogar ein kostbarer Papagei war darunter. Verängstigt, den Kopf halb unter die Flügel gesteckt, kauerte das exotische Tier auf seiner Stange. Es musste eine weite Reise hinter sich haben. Im fernen Afrika, hatte Gunda gehört, lebten solche bunten Vögel.
    Agnes stand dicht vor dem Käfig und redete beruhigend auf das wertvolle Tier ein. Es machte bereits erste Ansätze, seine verkrampfte Haltung zu lockern. Nicht zum ersten Mal erlebte Gunda dieses Schauspiel. Beim Umgang mit Tieren zeigte das Mädchen ein ungewöhnliches Geschick. Wieder fiel ihr der alte Fröbel ein. »Wer die Sprache der Tiere spricht, versteht die Sprache des Herzens«, hatte er zu Agnes’ ungewöhnlicher Gabe gemeint.
    Auf Zehenspitzen näherte Gunda sich der Tochter. Staunend umringte eine Schar Kinder und Neugieriger den Vogelbauer, zeigte verblüfft mit den Fingern auf das seltene Tier. Sein Gefieder war grau, lediglich die rote Schwanzfeder stach heraus. Unter Agnes’ Worten löste es sich schließlich ganz aus seiner Starre, trippelte bald leutselig auf das Mädchen zu und rief mehrmals laut vernehmlich: »Grüß Euch! Grüß Euch!« Agnes strahlte über das ganze Gesicht. Die Menge applaudierte, die Brust des Händlers schwellte vor Stolz an. Offenbar hoffte er, Agnes kaufte ihm den Vogel nun, da sie Freundschaft mit dem Tier geschlossen hatte, zu einem horrenden Preis ab. Schon wollte Gunda sich einschalten, da kam ein vornehm gekleideter, schwarzbärtiger Mann mit Barett auf den welligen Haaren von der anderen Seite auf Agnes zu. Wohlwollend lächelte er. »Anscheinend habt Ihr eine ganz besondere Gabe für Tiere. In Eurer Gegenwart fühlt sich der Papagei wohl. Ihr solltet ihn besitzen. Darf ich mir erlauben, ihn Euch zu schenken?«
    »Nein!«, entfuhr es Gunda übertrieben laut. Aus unerfindlichen Gründen verlangte es sie sogleich danach, Agnes aus der Nähe des Schwarzbärtigen wegzuziehen. »Meine Tochter nimmt keine Geschenke von wildfremden Menschen an.«
    Besorgt griff sie Agnes am Arm. Das Mädchen schüttelte sie verärgert ab.
    »Aber Mutter, das ist doch …«
    »Du kennst diesen Herrn?«
    Erst jetzt sah Gunda den Schwarzbärtigen genauer an. Sie erstarrte. Diese Augen! Der Mann hatte zwei verschiedenfarbige Augen! Ein spitzer Aufschrei entfuhr ihr. Nicht nur die Augen, das ganze Auftreten des Fremden schien ihr vertraut. Dabei war sie sicher, ihm noch nie zuvor begegnet zu sein. Während sie angestrengt nachdachte, begann sie zu frösteln. Sie schnappte nach Luft, klammerte sich an Agnes’ Arm. Ein Bild aus lang vergangenen Tagen stieg in ihr auf. Eine Frau war es gewesen, an die der Fremde sie erinnerte. Eine Frau, nicht eben vertraut, doch Gunda an einem folgenschweren Tag ihres Lebens so nah wie kaum ein anderer, nicht einmal Mutter Lore.
    »Mutter, was hast du?« Behutsam legte Agnes ihr den Arm um die Schultern,

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