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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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herein. Tief sog sie sie ein. Um Zeit zu gewinnen, sah sie lange hinaus.
    Seit dem Öffnen der Stadttore zogen Fuhrwagen und Karren vom Löbenicht kommend durch die Altstädter Langgasse zum Marktplatz. Die Aufregungen der letzten Wochen schienen vergessen. Dabei wäre es innerhalb der Stadtmauern fast zum Krieg gekommen. So grässlich die Vorstellung von Kämpfen vor der eigenen Haustür auch war, noch viel mehr erschütterte Editha die Vorstellung, beinahe Zeugin einer Fehde von Königsbergern gegen Königsberger geworden zu sein. Schuld daran trug allein der Preußische Bund. Seit seinen Anfängen vor fünfzehn Jahren misstraute Editha ihm, zu Recht, wie sich nun gezeigt hatte: Erst trieb er einen Keil zwischen die Städte des Ordenslandes und den ihnen über Jahrhunderte treuen Schutzherrn, den Deutschen Orden. Dann löste er beinahe einen Krieg zwischen den drei Königsberger Städten aus. Dabei hatten Altstädter, Löbenichter und Kneiphöfer Bürger im letzten Jahr noch einträchtig die Kreuzherren aus der Ordensburg oberhalb der Altstadt vertrieben. Editha schnaufte. Niemals durfte man sich des einmal Erreichten zu sicher sein. Der Streit mit Gernot bewies, dass das leider auch auf die eigene Familie zutraf. Die Auseinandersetzung innerhalb der Königsberger Mauern war noch einmal gut ausgegangen. Im letzten Augenblick hatten die Altstädter und Löbenichter Vernunft angenommen und die wahren Absichten der Bündischen sowie des von ihnen hochverehrten polnischen Königs Kasimir durchschaut. Der Elbinger Komtur, Heinrich Reuß von Plauen, war ihnen zu Hilfe geeilt und hatte mit seinen tapferen Mannen die letzten Aufmüpfigen in den Kneiphof verjagt. Seither verschanzten sie sich dort. In der Rückkehr zur alten Ordnung unter dem Schutz der Kreuzherren sah Editha die einzige Möglichkeit, in Königsberg friedlich und erfolgreich Handel zu treiben. Vielleicht, so hoffte sie, lernte Gernot aus diesem Beispiel, auch im eigenen Haus Vernunft walten und die bestehende Ordnung unangetastet zu lassen. Caspar musste zu Hause bleiben. Änderungen und Neuerungen beschworen nur Unheil herauf. Gar nicht auszumalen, was dem Jungen in der Fremde widerfahren, welchen Gefahren er ausgesetzt werden konnte! Abermals ballte sie die Fäuste, schloss die Augen und sammelte neue Kraft. Ruhiger geworden, blickte sie noch einmal nach draußen.
    Das sonnige Wetter der letzten Tage dauerte an. Nach dem Ausbleiben der Kämpfe trauten sich die Bürger wieder vor die Tür, um den Frühling und die Rückkehr des friedlichen Miteinanders zu begrüßen. Weit standen die Tore zu den Werkstätten offen, auch die teuren Glasfenster an vielen Kaufmannshäusern waren geöffnet. In jedem Winkel sammelten sich Männer und Frauen, um Neuigkeiten auszutauschen. Die zufriedenen Gesichter verrieten, wie gut diese ausfielen. Mit gewachsener Zuversicht drehte Editha sich zurück ins Innere der Stube.
    In wenigen Schritten stand sie bei dem Käfig mit dem grüngelben Vogel. Das kostbare Tier war ein eindeutiger Liebesbeweis. Vor wenigen Wochen erst hatte Gernot ihn ihr geschenkt. Die Erinnerung an jenen Nachmittag, als er den Käfig stolz ins Haus gebracht hatte, rührte sie. Wer seine Frau nach achtzehn Jahren Ehe mit einem solch wertvollen Geschenk bedachte, musste immer noch viel für sie empfinden. Sie sollte Gernots streitsüchtigen Ton nicht überbewerten. Leise pfiff sie, um den Vogel zu locken. Kaum wurde das kleine Tier ihrer Aufmerksamkeit gewahr, plusterte es sich auf und stimmte sein zweizeiliges Lied an, das in einem anschwellenden »Türelli« anhob und mit einem abfallenden »Düdüdü« endete. Sie streckte den Zeigefinger zwischen die Stäbe und schnalzte mit der Zunge. Der Vogel aber hatte genug geträllert und verbarg den kleinen Kopf zwischen Brust und Flügel. Enttäuscht wandte Editha sich endlich wieder ihrem Gemahl zu und betrachtete ihn nachdenklich.
    Trotz seiner fast vierzig Jahre strahlte Gernot jugendlichen Schwung aus. Arme und Hände zeugten von einer gewissen Feingliedrigkeit, während das breite Gesicht mit der platten Nase und den hervorquellenden Froschaugen sowie der schwulstige Nacken alles andere als zart wirkten. Womöglich war es genau dieser Widerspruch zwischen grob und fein, der Gernots besonderen Reiz ausmachte. Edithas Blick wanderte weiter. Unter dem weit schwingenden, oberschenkellangen Rock aus dunkelblauem Tuch trug ihr Gemahl ein hellbraunes Wams mit auffällig verzierten Säumen. Die roten Strumpfhosen mit

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