Goldbrokat
ich Gernot Wever endlich meine Fragen stellen. Mich hatte insbesondere das Weben von komplizierten Mustern beeindruckt.
»Ja, das ist eine Wissenschaft für sich, Frau Kusan. Die aufwändigste Arbeit beim Weben ist das Einrichten des Webstuhls. Das kann bis zu zwei Wochen dauern. Jeder einzelne Faden wird durch Ösen, die Litzen, gezogen und mit den Harnischschnüren zu Latzen zusammengefasst.«
»Woher weiß man, in welcher Reihenfolge diese Latzen zusammengestellt werden müssen?«
»Das vorgezeichnete Muster wird sozusagen zeilenweise aufgelöst. Jede Zeile entspricht einem Querfaden, dem Schuss. In dieser Zeile wird bestimmt, welche Kettfäden angehoben werden und welche unten bleiben.«
»Aber das können doch Hunderte von Zeilen sein«, entfuhr es mir, als ich auf die weiße Damasttischdecke blickte, auf der mein Gedeck stand.
»Ganz richtig. Es ist nicht nur so, dass sich ein Künstler ein Ornament ausdenken kann, so wie etwa beim Stoffdruck, nein, es muss in seine kleinsten Bestandteile zerlegt und in ein Schema aus Punkten übertragen werden. Es gibt zwei Arten von Punkten – Faden hoch oder Faden unten.«
»Und das war schon immer so?«
»Seit man Muster zu weben in der Lage war – ja. Nur die Handhabung ist heute leichter. Ich selbst habe vor zwanzig Jahren noch als Zampeljunge gearbeitet. Das heißt, ich habe oben auf dem Webstuhl gesessen und die Latzen gezogen, während meine Mutter das Weberschiffchen bediente. Und gnade mir Gott, ich hatte mich in der Reihenfolge vertan, also verzettelt. Denn Webfehler im Stoff minderten seine Qualität, und damit gab es weniger Geld.«
Philipp, der gerade zwischen einer heißen Waffel und einem
Stück Streuselkuchen schwankte, konnte nicht umhin, mit seinem Wissen zu prunken: »Das hat Monsieur Jacquard auch gestört, nicht wahr?«
Gernot Wever lächelte anerkennend.
»Monsieur Jacquard war ebenfalls einst ein geplagter Zampeljunge. Aber er hat aus der Not eine Tugend gemacht und die Musterkarte erfunden. Das sind Pappkarten, in die die Reihenfolge der zu hebenden Kettfäden in Form von Löchern eingestanzt werden. Diese Karten laufen wiederum über eine Walze. Häkchen, die mit Federn gespannt sind, bewegen nun die Kettfäden, und immer wenn sie auf ein Loch in der Karte treffen, springen sie vor und öffnen das notwendige Fach.«
»Die Weber waren aber nicht sehr glücklich mit dieser neuen Erfindung, nicht wahr?« Mir fiel ein, dass es in den Jahren um meine Geburt herum einige Weberaufstände gegeben hatte.
»O nein, die Weber lehnten jede neue Technik ab, weil sie dadurch weniger verdienten. In Lyon haben sie sogar einen Jacquard-Webstuhl öffentlich auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Dennoch hat er sich sehr schnell durchgesetzt.«
Die Haushälterin legte mir eine heiße Waffel auf den Teller und stellte Kirschkompott und Schlagsahne dazu. Ich verfluchte innerlich das enge Mieder und nahm ein kleines Häppchen von dem Gebäck. Es war so köstlich und hinderte mich beinahe am Denken. Meine Tochter, die in kein Schnürleibchen gezwängt war, verdrückte bereits die zweite Waffel mit gleich bleibendem Appetit und nahm mir auch die nächste Frage ab.
»Sie machen aber nur zwei Muster, Herr Wever. Ich habe nämlich die Stoffe gesehen, die Sie Mama geschickt haben.«
»Sehr aufmerksam, Fräulein. Ja, ich habe nur das Recht, diese beiden Muster, die Blätter und die Ranken, zu weben. Ich sagte ja schon, es ist sehr aufwändig, diese Muster auf die Webtechnik zu übertragen.Wer immer so ein Dessin 1 entworfen hat, erwirbt das alleinige Recht daran. Es wird beim Gewerberat hinterlegt,
und andere müssen dem Urheber dann dafür bezahlen, wenn sie es nutzen wollen.«
»Verständlich«, nuschelte ich, besann mich auf meine guten Manieren, schluckte runter und fügte hinzu: »Es wäre ja auch sehr ungerecht, wenn ein Fabrikant die ganze Arbeit hat, und die Konkurrenten machten seine Muster dann einfach nach.«
»Der Dessin-Gestalter hat die Arbeit, der Fabrikant zahlt ihm dafür. Ich habe aber leider keinen Künstler, der dazu in der Lage ist, also zahle ich für die beiden Muster das Nutzungsrecht. Nicht zu knapp, möchte ich sagen.«
Tante Caro, die die ganze Zeit schweigend zugehört und recht beachtliche Mengen an Kuchen dabei verputzt hatte, zeigte Unverständnis.
»Das verstehe ich nicht, Herr Wever. Es gibt doch so viele begnadete Künstler, die hübsche Bilder zeichnen. In meinem Bekanntenkreis entwerfen etliche Damen die schönsten
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