Goldmarie auf Wolke 7
hoch spannend, weshalb sie lieber mich auf der Reeperbahn besuchte, als dass sie mich zu sich einlud. Besonders fasziniert war sie von den Mädels, die im Winter in grellbunten Skioveralls und im Sommer in tief dekolletierten Schlauchkleidern darauf warteten, liebeshungrigen Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Für mich war diese Atmosphäre genauso normal wie für Julia das alte Kapitänshaus im Blankeneser Treppenviertel, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Ebenso wie der große Mercedes-Van, das Cabriolet und, nicht zu vergessen, die regelmäßigen Ferien in Sils Maria, auf Sylt und Sardinien.
»Dass eure Freundschaft funktioniert, wo ihr doch in so unterschiedlichen Welten lebt. Also ich würde platzen vor Neid«, hatte Lykke gesagt, als Julia zum ersten Mal bei uns daheim aufgekreuzt war. Das war eines der wenigen Male gewesen, dass meine Stiefschwester mich direkt angesprochen hatte.
Aber ehrlich gesagt war es auch besser, wenn sie nicht mit mir redete! Keine Ahnung, warum, aber wir hatten von Anfang an keinen guten Draht zueinander, sehr zum Leid von Kathrin.
2. Lykke Pechstein
(Montag, 7. November 2011)
Dear Diary,
ich könnte ausrasten! Detlev Schrott, der Idiot hat behauptet, dass er es nicht glauben kann, wie schlecht ich in Deutsch bin. Er sagt, demnächst würde er mir eine Fünf ins Zeugnis setzen. Und dann erzählt er auch noch vor der ganzen Klasse, dass ich Goethe nicht von Schiller unterscheiden kann. Alle glotzen, alle kichern. Zickenhaufen! Halten sich für was Besseres, nur weil sie die ersten Strophen von der Glocke auswendig können. Als ob das in irgendeiner Form was bringen würde. Schiller, Goethe – who cares! Das hilft ihnen in ihrem Leben garantiert nicht weiter. Mist, Mum ruft. Zeit zum Abendessen. Hoffe, Marie ist bei ihrer Schicki-Freundin Julia und verschont mich heute mit ihrer Anwesenheit. Momentan bekomme ich schon einen Anfall, wenn ich nur ihre Stimme höre. Gut, dass sie sich vor langer Zeit endlich dieses dämliche Geträller als Begleitung für ihr Bratschenspiel abgewöhnt hat. Dieses blöde Gefiedel und Herzschmerzgejaule war kaum auszuhalten gewesen. Mag ja sein, dass ihr Dad ein super Typ war, aber es ist jetzt schließlich schon über vier Jahre her, dass er sich vom Acker gemacht hat. Wahrscheinlich hat er längst mit dem lieben Gott und seiner Engelsschar im Himmel eine Band gegründet. Mum benimmt sich ebenfalls so, als sei sein Tod das Ende der Welt. Ist auch ewig her, dass ich sie habe lachen sehen. Und jetzt, da sie zu allem Überfluss noch bei ihrer Firma rausgeflogen ist, ist endgültig Ende im Gelände. Oh Mann, ich wünschte ich wäre weit, weit weg … Schlaf schön, Tagebuch.
Deine unglückliche Lykke
PS: Moms Idee, mithilfe meines Vornamens meinem Nachnamen einen Strich durch die Rechnung zu machen, betrachte ich hiermit als gescheitert. Pech wickelt Glück ein.
3. Marie Goldt
(Dienstag, 8. November 2011)
Dr. Willibald Hahn
Kinder- und Jugendpsychologe
Alle Kassen
Mit pochendem Herzen starrte ich auf das Praxisschild.
Meine Hände waren eiskalt, und das nicht nur wegen des beißenden Novemberwindes, der grimmig durch die Straßen der Stadt fegte. Die wenigen Passanten, die sich wie ich in diese kleine Seitenstraße in Winterhude verirrt hatten, beschleunigten mit hochgeschlagenem Mantelkragen und eingezogenen Köpfen ihre Schritte. Sie wollten so schnell wie möglich in ihr warmes Zuhause und ich konnte sie sehr gut verstehen.
Es nützt nichts, ich muss da jetzt durch!, dachte ich, straffte die Schultern und drückte mit klammen Fingern den Klingelknopf. Durch die Gegensprechanlage ertönte die metallisch scheppernde Stimme einer Frau: »Komm rauf, Kindchen, wir sind im fünften Stock. Die schlechte Nachricht ist: Wir haben keinen Fahrstuhl!« Dann ertönte der Summer.
»Na, Aufstieg gut überstanden?«, fragte eine kleine, rundliche Dame und nahm mir den Mantel ab, als ich endlich oben angekommen war. Ich kämpfte gegen das nervige Schwindelgefühl, das mich seit einiger Zeit in regelmäßigen Abständen überfiel, und schaute mich um. Auf den ersten Blick erinnerte nichts an eine Psychologen-Praxis, ganz im Gegenteil: Der Wartebereich war mit gemütlichen Korbstühlen und bunt bestickten Sitzkissen ausgestattet, wie ich sie neulich in einem Indien-Shop bewundert hatte. Über dem dunklen Dielenboden lagen flauschige Teppiche mit orientalischen Mustern, an den Wänden hingen Bilder, die Szenen aus den Märchen aus 1001 Nacht
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