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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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mageren Jungen mit dem traurigen Blick kümmern zu müssen, hatte beinah mütterliche Gefühle entwickelt für den noch nicht einmal Sechzehnjährigen, wenigstens aber die Gefühle einer großen Schwester, dabei war er es, der ihr in den folgenden Wochen zeigen sollte, wie man auf der Straße überlebte. Benny brachte ihr bei, wie man Brieftaschen aus fremden Jacken ziehen konnte, ohne dass es Ärger gab, wie man Türen aufschloss, zu denen man keinen Schlüssel besaß, wie man Autos fuhr, die einem nicht gehörten. Eine ganze Menge nützlicher Dinge für ein Mädchen, das am Abend nicht wusste, wovon es am nächsten Tag satt werden sollte.
    Das ganze Frühjahr hatten sie sich zusammen durchgeschlagen, mit Taschendiebstählen, kleineren Einbrüchen, ein paar Aufträgen, die sie für Kalli erledigten, hatten von der Hand in den Mund gelebt. Bis sie die Sache mit den Kaufhäusern entdeckt hatten.
    Das erste Mal, bei Tietz am Dönhoffplatz, hatte es sich einfach so ergeben, reiner Zufall. Alex und Benny waren eigentlich nur deshalb kurz vor Ladenschluss durch das Kaufhaus gebummelt, weil es draußen zu regnen begonnen hatte. Die Idee war dann wie von selbst zu ihnen gekommen, irgendwo aus heiterem Himmel, in jenem Moment, als die Angestellten begonnen hatten, die Kunden höflichst zu den Ausgängen zu bitten. Alex und Benny hatten nur einen Blick wechseln müssen, und die Sache war klar. Die nächsten Stunden hatten sie eng aneinandergedrückt in einem riesigen Schrankkoffer verbracht, bis alles um sie herum ruhig geworden war. Alle Knochen taten ihnen weh, als sie sich endlich wieder hinauswagten. Dass sie dann die Schmuckvitrinen leer räumten, hatte sich so ergeben, was sonst schon hätten sie mitgehen lassen sollen, ein Sofa kam wohl kaum infrage. Zwei kleine Koffer hatten sie füllen können, die sie in der Lederwarenabteilung besorgt hatten, gerade so viel, wie sie bequem tragen konnten, ohne aufzufallen. Als sie dann wieder raus waren durch ein Fenster auf den Hof und dann auf die Krausenstraße, hatte kein Mensch sie aufgehalten, niemand ihnen angesehen, was sie gerade getan hatten und was sie in ihrenKoffern trugen. In aller Seelenruhe waren sie am Spittelmarkt in die nächste U-Bahn gestiegen. Auch die Leute in der Bahn hatten sie nicht weiter beachtet, diese beiden Jugendlichen mit ihren Koffern, die aussahen wie Straßenhändler, abgekämpft nach einem langen, erfolglosen Tag und auf dem Weg nach Hause.
    Kalli hatte vielleicht Augen gemacht am nächsten Morgen. Und bereitwillig Kohle rausgerückt. So viel hatten sie ihm noch nie geliefert. Höchstens mal eine alte Taschenuhr, die sie einem Besoffenen abgenommen hatten, oder ein bisschen Krimskrams aus irgendwelchen Autos. Mit solchem Kleinkram hatten sie dann aufgehört nach der Sache bei Tietz. Brieftaschen in der U-Bahn abgreifen oder Betrunkene ausnehmen, das lohnte kaum und war immer ein Glücksspiel, die Kaufhausmasche brachte einfach mehr ein. Und war kinderleicht: einschließen lassen, möglichst viel Krempel aus den Vitrinen holen und dann nichts wie raus. Wenn die Nachtwächter die leer geräumten Vitrinen bemerkten, waren Alex und Benny längst über alle Berge. Vier Häuser hatten sie schon besucht auf diese Weise, und das letzte Mal, bei Karstadt, hatten sie richtig gute Ware raustragen können. Aber die beste Adresse der Stadt musste Kalli ihnen erst vorschlagen, selbst wären sie wohl nie darauf gekommen vor lauter Respekt: Im KaDeWe, da sei doch richtig was zu holen, hatte er gesagt, warum sie da denn nicht mal reingingen; der Laden werde auch nicht besser bewacht als Tietz oder Karstadt, garantiert, er kenne einen, der da arbeite.
    Und nun war sie drin, stakste über Rolltreppen, die in ihrer Unbeweglichkeit schwerhängiger wirkten als jede steinerne Treppe, Etage für Etage nach unten. Das Gefühl, das riesige KaDeWe ganz für sich zu haben, überwältigte Alex plötzlich mit Macht. Sie musste daran denken, wie sie bei Tietz zusammen mit Benny von Abteilung zu Abteilung gegangen war und wie sehr sie es genossen hatten, nun allein zu sein mit all diesen Schätzen. Sie hatten eine ganze Menge ausprobiert, sogar der Spielwarenabteilung einen Besuch abgestattet, ein bisschen verschämt zunächst, weil beide ihre kindliche Seite bei aller Vertrautheit voreinander meist verbargen, doch schon beim zweiten Kaufhaus – wieder Tietz, diesmal der am Alex – hatten sie sich zusammengerissen und gleich an die Arbeit gemacht.
    Die große Halle im

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