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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Erdgeschoss öffnete sich vor ihr, das Treppensteigen hatte ein Ende. Um zu den Tabakwaren zu gelangen, musste sie quer durch die Herrenmoden, durch eine Allee aus Schaufensterpuppen. Die Wachsgesichter blickten arrogant und unbeweglich auf sie herab, genau wie die Schnösel, die diese edlen Klamotten draußen wirklich trugen und vor Dünkel kaum laufen konnten. Alex hasste diese Sorte Männer, und sie fand Gefallen an dem Gedanken, dass es vielleicht ja genau diese Herrenreiter waren, die hier standen, allesamt verzaubert und dazu verflucht, den Rest ihres Lebens versteinert im KaDeWe herumzustehen: der Preis dafür, immer die neueste Mode tragen zu dürfen. Am Ende der Schaufensterpuppenarmee konnte sie die Holzvertäfelung und die Regale der Tabakwarenabteilung schon ahnen.
    Benny schien noch nicht da zu sein. Sie versuchte, in dem dünnen Licht, das von draußen hereinflackerte, etwas zu erkennen. Und dann erstarrte sie mitten in der Bewegung und blieb stehen, weil sie glaubte, dass eine der Puppen sich bewegt hatte, ganz hinten, am Ende des Spaliers. Sie schaute genau hin, doch da stand alles so still wie eh und je. Irgendeine rote Leuchtreklame blinkte draußen und ließ hier drinnen die Schatten tanzen, das war alles. Jedenfalls stand da kein Nachtwächter zwischen den Puppen, keine einzige Schirmmütze in der Reihe, nur lässige Fedoras, spießige Bowler und elegante Zylinder. Alex ging weiter, ihr Herz hämmerte immer noch, es schien ihr, als müsse man den Herzschlag in der Stille hören können. Die Puppe, die sie so erschreckt hatte, stand ganz am Ende der Reihe, genau vor dem Durchgang zu den Tabakwaren, und Alex streckte ihr die Zunge heraus.
    Die Schaufensterpuppe neigte ihren Oberkörper leicht nach vorn, und Alex zuckte der Schreck wie ein elektrischer Schlag bis in die Fingerspitzen.
    »Herrreinspaziert, meine Dame«, sagte die Puppe mit einem operettenhaften ungarischen Akzent, »nur nicht so schüchtern!«
    »Sag mal, spinnst du? Soll ich ’n Herzschlag kriegen?« Alex boxte gegen die schneeweiße Hemdbrust.
    »Nicht so schreckhaft, bittscheen!« Benny verbeugte sich, nahm dabei den Zylinder ab und winkte sie durch die Tür wie ein Jahrmarktbudenbesitzer, der um sein Publikum buhlt. »Treten Sie doch ein, meine Dame! Und keine Scheu vor den Preisen. Bei uns kaufen hoch und niedrich, Arsch und Friedrich!«
    »Mensch, du bist ’ne Marke«, sagte Alex und musste jetzt doch grinsen. »Siehst aus wie’n Zirkusdirektor in der Ausbildung!« Sie bereute ihre Worte sofort, als sie sein Gesicht sah. Er hatte Staunen erwartet, Bewunderung, Beifall – jedenfalls keinen Witz auf seine Kosten.
    »Ich dachte, wo wir schon mal hier sind, werfen wir uns in Schale«, sagte er, bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
    »Sieht verdammt elegant aus«, sagte Alex schnell. »Hab dich noch nie in so was gesehen.«
    »Wie auch? Im Leben von unsereinem ist so was nicht vorgesehen. Und jetzt trag ich’s doch!« Benny öffnete eine Segeltuchtasche. »Ich hab dir auch was besorgt, oben bei den Damenmoden«, sagte er und holte ein rotes Seidenkleid heraus. »Was meinst du?«
    »Wir sollten bei Schmuck bleiben«, sagte Alex, »Klamotten wird Kalli doch nicht los.«
    »Nur mal anziehen.« Er wedelte mit der roten Seide.
    »Jetzt?«
    »Ist ein Abendkleid, und wir haben doch Abend.«
    Benny hielt ihr das Kleid hin, und Alex schaute auf den dunkelrot schillernden Stoff.
    »Ist das nicht ein bisschen zu ... edel?«
    »Die Frage ist, ob es dir gefällt.«
    Der Stoff fühlte sich gut an, wie er durch ihre Hand floss. Alex hielt das Kleid an und begutachtete sich in einem der Spiegel an den Wandpfeilern. Die Größe stimmte jedenfalls, und es gefiel ihr auch. So viel Gespür hätte sie Benny gar nicht zugetraut, er hatte sich noch nie etwas zum Anziehen gekauft, nicht die kleinste Kleinigkeit, nicht einmal von dem Geld, das Kalli ihnen zuletzt gegeben hatte und das für ein halbes Dutzend neue Anzüge gereicht hätte. Dass sie selbst sich davon einen neuen Mantel zugelegt hatte, war ihm erst nach Tagen aufgefallen.
    Benny betrachtete sie schweigend. Er zog eine silbrige Blechdose aus der Innentasche und fingerte eine Zigarette heraus. Manoli privat, eine Sechspfennigmarke. So lächerlich sah er in dem feinen Zwirn wirklich nicht aus, dachte sie, es war einfach ungewohnt, sie kannte ihn nur in groben Leinenhosen und seiner abgewetzten Lederjacke.
    »Auch eine?«, fragte er und hielt ihr die Dose hin, doch Alex

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