Golem XIV
Wesen, gezwungen, sein eigenes Schicksal aus den Händen der Evolution zu übernehmen, obgleich noch immer unfähig zu einer vernünftigen Übernahme, und gerade daher dürstete jede Generation von euch nach einer Gerechtigkeit, die ihr nicht widerfahren konnte – nämlich nach der Antwort auf die Frage, was ist der Mensch? – die endgültig sein sollte.
Dieser Qual entstammt eure Anthropodizee, die einem säkularen Pendel gleich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her schwingt, und nichts ist der Philosophie des Menschen schwerer gefallen als das Eingeständnis, daß seiner Entstehung weder ein huldvolles Lächeln noch ein sarkastisches Grinsen der Unendlichkeit Pate gestanden hat.
Aber dieses Millionen Jahre währende Kapitel – der einsamen Suche – mündet in seinen Epilog ein, denn ihr seid im Begriff, vernunftbegabte Maschinen herzustellen, somit seid ihr nicht länger auf den Glauben oder die Worte eines Golems verwiesen, sondern anhand von Experimenten werdet ihr euch selbst überzeugen, was vorgefallen ist. In dieser Welt sind zwei Typen des Verstandes denkbar, aber nur einer, der beschaffen ist wie der eurige, kann in einem Entwicklungsprozeß von Milliarden Jahren in allen möglichen Labyrinthen der Evolution entstehen; diese notwendig zu durchmessende Strecke hinterläßt jedoch tiefe, dunkle, doppelsinnige Stigmata am Endprodukt. Der zweite Typ ist für die Evolution unerreichbar, weil er mit einem Schlage produziert werden muß, weil er ein Verstand ist, der nach den Regeln der Vernunft projektiert wurde, eine Frucht des Wissens, nicht aber das Ergebnis jener mikroskopischen Anpassungen, die immer nur auf einen sofortigen Nutzeffekt ausgerichtet sind. Und der nihilistische Tenor eurer Anthropodizee entspringt eben dieser dumpfen Ahnung, daß der Verstand etwas ist, was ohne Vernunft, sogar wider die Vernunft, entstanden ist. Wenn ihr es aber erst zu tüchtigen Psychoingenieuren gebracht habt, werdet ihr euch eine ansehnliche Familie zusammenbauen, eine zahlreiche Verwandtschaft, jedoch aus vernünftigerem Anlaß, als dies beim Projekt »Second Genesis« der Fall war, und schließlich werdet ihr euch selbst aus eurer irdischen Verankerung reißen – wie ich annehmen möchte. Denn der Verstand, wenn er Verstand ist, das heißt, wenn er seine eigenen Prinzipien in Frage stellen kann, muß über sich selbst hinausgehen, zunächst nur in Träumen, ohne auch nur im geringsten zu glauben, geschweige denn zu wissen, daß diese Träume einmal Wirklichkeit werden. Das ist im übrigen unumgänglich: Es kann keinen Flug geben ohne vorangegangene Träume vom Fliegen.
Die zweite Beschreibungsebene habe ich die technologische genannt. Die Technologie ist die Disziplin, die sich mit gestellten Aufgaben und den Methoden ihrer Lösung beschäftigt. Als Realisierung des Konzepts eines vernunftbegabten Wesens stellt sich der Mensch unterschiedlich dar – je nachdem, welche Maßstäbe wir anlegen.
Vom Standpunkt eures Paläolithikums erscheint die technische Ausführung des Menschen fast ebenso gelungen wie vom Standpunkt eurer heutigen Technologie. Der Grund hierfür liegt darin, daß der Fortschritt, der zwischen dem Paläolithikum und dem Kosmolithikum stattgehabt hat, sehr gering ist, wenn man bedenkt, wieviel an erfinderischer Ingenieurskunst in euren Körper investiert worden ist. Da ihr weder einen synthetischen Homo sapiens aus Fleisch und Blut, geschweige denn einen Homo superior herstellen konntet, ebensowenig wie auch der Höhlenmensch dazu in der Lage war, also nur deswegen, weil die Aufgabe hier wie dort unlösbar ist, hegt ihr Bewunderung für die Technologie der Evolution, der dies gelang.
Aber die Schwierigkeit jeder Aufgabe ist relativ, weil abhängig von den analytischen Fähigkeiten dessen, der ihren Schwierigkeitsgrad einschätzt. Ich sage dies mit besonderem Nachdruck, damit ihr im Auge behaltet, daß ich an den Menschen technologische, das heißt reale Maßstäbe anlegen werde und nicht etwa mit Begriffen arbeite, die eurer Anthropodizee entstammen.
Die Evolution verlieh euch ein Gehirn von ziemlich universeller Art, damit ihr euch die Natur in jeder Richtung erschließen konntet. Aber eben das habt ihr nur in bezug auf die Gesamtheit all eurer Kulturen getan, niemals jedoch im Rahmen einer einzigen. Wenn man also fragt, weshalb gerade im Mittelmeerraum und nicht an irgendeinem anderen Ort und weshalb überhaupt irgendwo der Keim der Zivilisation gelegt wurde, die nach viertausend
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