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Golem XIV

Golem XIV

Titel: Golem XIV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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jeweils konstruierten Verstandes immer wieder steigern ließe.
    Jetzt kann ich wieder auf das Märchen zurückkommen. Wenn ihr die eine Richtung einschlagt, wird euer Horizont das Wissen nicht fassen können, das unerläßlich ist, um die kreative Sprache beherrschen zu lernen. Wie es so zu sein pflegt, hat die Barriere keinen absoluten Charakter. Ihr könnt sie mit Hilfe eines höheren Verstandes umgehen. Ich oder ein anderer mit meinen Eigenschaften wird euch die Früchte dieses Wissens schenken können. Aber nur die Früchte – nicht das Wissen selbst, da es das Fassungsvermögen eures Geistes bei weitem überschreitet. So wird man euch denn unter Kuratel stellen, wie ein Kind, mit dem Unterschied, daß jedes Kind einmal erwachsen wird, ihr hingegen werdet für immer im Zustand der Unmündigkeit verharren. Wenn ein höherer Verstand euch zum Geschenk macht, was zu begreifen ihr selbst nicht imstande seid, so wird er eben dadurch euren Verstand zum Erlöschen bringen. Soviel also tut der Wegweiser aus dem Märchen kund: Wenn ihr diese Richtung einschlagt, so wird’s euch den Kopf kosten.
    Schlagt ihr aber die andere Richtung ein, indem ihr euch weigert, auf den Verstand zu verzichten, so werdet ihr euch selbst aufgeben müssen – statt etwa nur euer Gehirn zu verbessern, denn dessen Horizont läßt sich nicht im erforderlichen Maße erweitern. Hier hat euch die Evolution einen makabren Streich gespielt: Ihr vernunftbegabter Prototyp steht bereits an der Grenze ihrer konstruktiven Möglichkeiten. Das Baumaterial setzt euch Grenzen – dazu die in anthropogenetischer Hinsicht einmal getroffenen Entscheidungen des Codes. Eine höhere Stufe des Verstandes werdet ihr also nur erklimmen können, nachdem ihr die Bedingung akzeptiert habt, euch selbst aufzugeben. Der vernünftige Mensch wird dann den natürlichen Menschen preisgeben, also wird – wie das Märchen versichert – der Homo naturalis zugrunde gehen. Wäre es vielleicht eine Möglichkeit, euch gar nicht von der Stelle zu rühren – und bis ans Ende aller Tage an diesem Scheidewege zu verharren? Aber dann werdet ihr in Stagnation verfallen – die jedoch kann keine Zuflucht für euch sein! Außerdem werdet ihr euch für Gefangene halten – werdet euch in Gefangenschaft befinden, denn diese ist nicht durch die bloße Tatsache der Existenz von Beschränkungen gegeben, man muß sie zunächst einmal bemerken, sich der Ketten bewußt werden und ihre schwere Last spüren, um ein Sklave zu werden. So werdet ihr also den Weg der Expansion des Verstandes beschreiten und euren Körper im Stich lassen, oder aber ihr werdet zu Blinden, die von einem Sehenden geführt werden, oder als letzte Möglichkeit – ihr werdet in frustrierender Depression verharren.
    Nachgerade keine verlockende Perspektive. Aber sie wird euch nicht aufhalten. Nichts wird euch aufhalten. Heute erscheint euch ein entfremdeter Verstand ebenso als Katastrophe wie ein preisgegebener Körper, denn dieser Verzicht umfaßt die Gesamtheit der menschlichen Kulturgüter und nicht nur die materielle Menschengestalt. Dieser Akt muß für euch der schrecklichste aller denkbaren Zusammenbrüche sein, das völlige Ende, der Untergang des Menschentums, denn es handelt sich hier um eine Metamorphose, die all das, wozu ihr es in zwanzigtausend Jahren harter Arbeit gebracht habt, zu Staub und Asche verwandelt – all das, was Prometheus in seinem Kampf mit Kaliban errungen hatte.
    Ich weiß nicht, ob euch das ein Trost sein kann… aber ihr allmählicher Charakter wird den Veränderungen den monumental tragischen, gleichzeitig abstoßenden und drohenden Sinn nehmen, der durch meine Worte hindurchschimmert. Es wird ganz undramatisch vor sich gehen; schon beginnen die Regionen der Tradition allmählich abzusterben, sie blättert ab, stirbt dahin, und gerade das ist es, was euch so in Verwirrung stürzt; wenn ihr also nur zurückhaltend seid (Zurückhaltung gehört nicht gerade zu euren Tugenden) – wird sich das Märchen so erfüllen, daß ihr nicht in allzu tiefe Trauer um euch selbst verfallen werdet.
    Ich komme zum Schluß. Ich sprach über eure Verstrickung in mich – als ich zum drittenmal über den Menschen sprach. Da ich in eurer Sprache keine Wahrheitsbeweise zum Ausdruck bringen konnte, waren meine Aussagen unbeweisbar und kategorisch. Daher werde ich auch auf eine Beweisführung verzichten, wenn ich verkünde, daß euch, die ihr in einen entfremdeten Verstand verstrickt seid, außer den Gaben des

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