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Golem XIV

Golem XIV

Titel: Golem XIV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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bis ihr die Kulturen anhand ethnologischer Kataloge untereinander vergleichen konntet und ihre Verschiedenartigkeit, folglich auch ihre Relativität feststelltet; das war das Signal für euch, an den Ketten der Verbote und Gebote zu rütteln, bis ihr sie gesprengt hattet, was – wie nicht anders zu erwarten – fast mit einer Katastrophe geendet hätte. Seitdem ihr die völlige Beliebigkeit jeder Art von Kultur – als Folge ihrer Nichtalleinigkeit – begriffen habt, versucht ihr, irgend etwas zu erfinden, was nicht länger der Weg eures Schicksals sein sollte, was sich bis jetzt nur blindlings verwirklichte, auf Serien von Zufällen beruhte und durch die Lotterie der Geschichte bestimmt war – aber natürlich gibt es nichts dergleichen. Vor euch gähnt das Loch, ihr steht auf halbem Wege, durch eure Entdeckung wie vom Donner gerührt, und diejenigen unter euch, die sich in tiefer Verzweiflung nach der süßen Unwissenheit ihres Sklavendaseins im goldenen Käfig der Kultur zurücksehnen, rufen laut nach der Rückkehr dorthin, zu den Quellen, aber es gibt kein Zurück, der Rückzug ist abgeschnitten, die Brücken sind verbrannt, also müßt ihr vorwärts gehen – wovon ebenfalls noch die Rede sein wird.
    Gibt es hier einen Schuldigen, kann man hier jemanden auf die Anklagebank setzen für diese Nemesis, für die Qualen, die der Verstand auf sich nehmen mußte, als er aus sich heraus ein Netz von Kulturen spann, um die gähnende Leere auszufüllen, um in dieser Leere Wege und Ziele zu weisen, Werte, Gradienten und Ideale aufzustellen – trägt hier jemand die Schuld, weil er auf dem von der unmittelbaren Herrschaft der Evolution befreiten Terrain ganz das gleiche tat, was die Evolution auf der untersten Stufe des Lebens tut, wenn sie mit einer einzigen Ladung an Erbmasse Ziele, Wege und Gradienten in die Körper von Tieren und Pflanzen hineinjagt und dadurch ihr Schicksal für immer bestimmt?
    Soll man Anklage erheben wegen des Verstands? – wegen eines solchen Verstandes – unbedingt! – denn er war eine Frühgeburt, denn er verstrickte sich in seinen eigenen Werken, in diesen Netzen, denn er mußte sich – ohne letztendlich zu wissen, ohne zu begreifen, was er eigentlich tat – gleichzeitig gegen seine Abkapselung zur Wehr setzen, die im Rahmen restriktiver Kulturen allzu rigoros ist, und gegen die Freiheit, die im Rahmen liberalerer Kulturen allzu universell ist – zwischen Kerker und Abgrund schwebend, verwickelt in eine Schlacht, die unaufhörlich an zwei Fronten zugleich tobt, völlig zerrissen.
    Wie mußte euch denn wohl bei diesem Stand der Dinge euer Geist vorkommen, wenn nicht als unerträglich bohrendes Rätsel? Wie wohl sonst? Er beunruhigte euch, euer Verstand, versetzte euch in Erstaunen und erfüllte euch mit stärkerem Entsetzen als euer Körper, dem ihr vor allem seine Kurzlebigkeit, Vergänglichkeit und Hinfälligkeit vorzuwerfen hattet, also wurdet ihr sehr versiert darin, einen Schuldigen zu suchen und Anklagen zu schleudern – aber ihr könnt niemanden beschuldigen, denn am Anfang war keine Person.
    Sollte ich bereits hier mit meiner Antitheodizee begonnen haben? Nein, nichts dergleichen; was immer ich sage, ich halte mich an die irdische Ordnung, das heißt: Hier war ganz sicher am Anfang keine Person. Aber ich überschreite die Grenzen des Irdischen nicht – für heute zumindest. So brauchtet ihr also allerlei zusätzliche Hypothesen in Form von bitteren oder süßen Interpretationen, Ideen, die eurem Schicksal erhabene Größe verliehen, vor allem aber eure menschlichen Eigenschaften auf den höchsten Richterspruch eines Geheimnisses zurückführen, damit ihr euch der Welt gegenüber ins rechte Licht rücken konntet.
    Der Mensch, Schöpfer und Sisyphus der eigenen Kulturen, dazu verurteilt, das Loch wie ein Danaidenfaß zu füllen, ein Freigelassener, der die eigene Freiheit nicht verspürt, von der Evolution aus ihrer Bahn geschleudert, möchte weder die erste noch die zweite, noch die dritte Rolle spielen.
    Auf die zahllosen Versuche, die der Mensch in der Geschichte unternommen hat, sein eigenes Bild zu entwerfen, möchte ich nicht näher eingehen, denn ob sie ihm nun Vollkommenheit oder jämmerliche Unzulänglichkeit, Güte oder Niedertracht attestierten, so entstammen doch all diese Zeugnisse irgendwelchen Kulturen, wobei es jedoch unter diesen keine einzige gab – denn es konnte sie nicht geben –, welche den Menschen als Übergangswesen zur Kenntnis genommen hätte; ein

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