GONE Lügen
Regeln und Gesetze und Rechte und Pflichten, weil es sonst keine Gerechtigkeit und keinen Frieden geben wird.«
»Ich brauch bloß was zu essen!«, rief jemand.
Astrid ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe eine Liste mit Gesetzen aufgeschrieben, über die ihr alle abstimmen werdet. Sie sind einfach formuliert.«
»Klar, weil wir für alles andere zu blöd wären«, sagte Howard, der an den Brunnenrand getreten war.
»Nein, Howard, wenn hier jemand blöd war, dann ich. Ich wollte das perfekte System, eines, das alles bedenkt und nichts dem Zufall überlässt.«
Jetzt hörten ihr schon mehr Leute zu.
»Das perfekte System gibt es aber nicht, weshalb meine Liste auch unvollständig ist. Ich lese sie euch einfach vor:
Erstens: Jeder von uns hat das Recht auf Freiheit. Wir dürfen tun, was wir wollen, solange es niemandem schadet. «
Sie wartete kurz, doch es kam kein Zwischenruf. Nicht einmal von Howard.
»Zweitens: Niemand darf einen anderen verletzen, es sei denn, er oder sie handelt in Notwehr. «
Sie hörten ihr widerwillig zu. Nicht alle. Aber doch immer mehr.
»Drittens: Niemand darf einem anderen seinen Besitz wegnehmen. «
»Als ob es so viel zu klauen gäbe«, warf Howard ein, wurde aber aufgefordert, still zu sein.
»Viertens: Wir sind alle gleich und haben die gleichen Rechte, die Mutanten wie die Normalen. «
Astrid blickte zu Zil hinüber, dessen Miene sich verdunkelte. Er sah sich um und schien die Stimmung einzuschätzen. Sie fragte sich, ob er seinen Zug jetzt gleich machen oder noch abwarten würde.
»Fünftens: Wer ein Verbrechen begeh t – stiehlt oder andere verletz t –, wird angeklagt und kommt vor ein aus sechs Leuten bestehendes Gericht. «
In der Menge machte sich wieder Unruhe breit, einige verloren das Interesse und warfen sehnsüchtige Blicke auf das Essen, doch die meisten warteten geduldig und respektvoll ab.
»Sechstens: Das Gericht anzulügen, ist bei Strafe verboten. Siebtens: Bestrafungen können von einer Geldstrafe bis hin zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat oder länger reichen und im schlimmsten Fall die Verbannung aus Perdido Beach bedeuten. «
Das kam gut an. Die Leute alberten herum, zeigten mit dem Finger aufeinander und schubsten sich gegenseitig.
»Achtens: Alle sechs Monate wählen wir einen neuen Stadtrat, aber der Rat darf die ersten neun Regeln nicht ändern. «
»War’s das?«, fragte Howard.
»Es fehlt noch eine, die neunte Regel. Sie bereitet mir die größten Sorgen. Ich mag sie nicht, aber ich sehe keinen anderen Ausweg.« Sie sah Albert kurz an und nickte Quinn zu, der verwirrt die Stirn runzelte.
Jetzt hörten alle zu.
Astrid faltete ihre Zettel zusammen und stopfte sie in ihre Hosentasche. »Alle müssen nach diesen Regeln leben. Normale wie Mutanten. Bürger wie Ratsmitglieder. Auße r …«
»Außer Sam?«, half Howard nach.
»Nein!«, fuhr Astrid ihn an, beschloss aber, sich nicht provozieren zu lassen, und fügte ruhig hinzu: »Nicht außer Sam. Außer im Notfall. Im Ernstfall hat der Rat das Recht, alle anderen Regeln für die Dauer von vierundzwanzig Stunden auszusetzen. In diesem Fall kann der Rat eine oder mehrere Personen ernennen, die die Stadt verteidigen.«
»Also doch Sam«, sagte Howard und lachte zynisch.
Astrid ignorierte ihn und konzentrierte sich stattdessen auf Zil. »Und wenn du meinst, das richtet sich gegen dich, Zil, liegst du goldrichtig.«
Mit lauter Stimme rief sie in die Menge: »Wir werden alle darüber abstimmen! Bis dahin gelten diese Regeln als Gesetz, sofern eine Mehrheit im Rat dafür stimmt.«
»Ich stimme mit Ja«, sagte Albert rasch.
»Ich auch!«, rief Edilio aus der Menge.
Dekka nickte.
Howard verdrehte die Augen. Er sah zu Orc hinüber, der ebenfalls nickte, dann stieß er ein theatralisches Seufzen aus. »Na gut, meinetwegen.«
»Okay«, sagte Astrid. »Mit meiner Stimme sind es fünf von sieben. Damit haben wir die Mehrheit. Das sind also die Gesetze von Perdido Beach. Die Gesetze der FAYZ.«
»Dürfen wir jetzt endlich essen?«, fragte Howard.
»Noch eine letzte Sache«, sagte Astrid. »Ich habe euch angelogen und ich habe andere zum Lügen aufgefordert. Das ist zwar nicht gegen die neuen Regeln, aber trotzdem falsch. Aus diesem Grund und weil mir in Zukunft niemand mehr vertrauen wird, trete ich vom Stadtrat zurück. Mit sofortiger Wirkung.«
Als Howard langsam und ironisch zu applaudieren anfing, musste Astrid lachen. Es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, am
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