GONE Lügen
Leben.
Jetzt erblickte sie Mary, die die Kleinen aus der Kita brachte. Astrid beobachtete sie genau. Sie verhielt sich völlig normal. Hatte sie sich geirrt? So oder so würde Mary ihr das nie verzeihen.
»Und wenn schon«, murmelte Astrid. »Beliebt war ich früher auch nicht.«
Am anderen Ende der Plaza tauchte gerade Zil mit seiner Crew auf. Sie stolzierten daher, als wäre nichts geschehen. Astrid biss die Zähne zusammen. Würden die Leute auf sie losgehen? Sie hätte kein Problem damit. Viele dachten, sie hätte für den Anführer der Human Crew so was wie Verständnis übrig. Da irrten sie sich gewaltig. Sie hasste Zil. Hasste alles, wofür er stand, und alles, was er angerichtet hatte.
Als sich ein paar Jungs mit Stöcken und gezogenen Messern näherten, ging Edilio sofort dazwischen. Zils Leute waren ebenfalls bewaffnet, aber Edilio war derjenige mit dem Maschinengewehr.
Oft ging es nur darum, wer die bessere Waffe hatte. Auch dafür hatte Astrid nichts als Abscheu übrig.
Wäre Sam jetzt hier, wären es seine Hände. Alle hatten entweder mit eigenen Augen gesehen, was er damit anrichten konnte, oder es war ihnen im Detail beschrieben worden. Sam forderte niemand heraus.
»Seine Kraft macht ihn gefährlich«, murmelte Astrid.
Es war aber dieselbe Kraft, die ihr schon mehrmals das Leben gerettet hatte. Ihr und dem kleinen Pete.
Wie konnte er ihr das antun? Sich in sein Schneckenhaus zurückziehen und dann auch noch spurlos verschwinden? Das war passiv aggressiv. Unter seiner Würde.
Andererseits war sie auch ganz froh darüber. Denn wäre er jetzt hier, würde sich alles um ihn drehen. Ob die Kids ihre Worte ernst nehmen würden, wäre davon abhängig, was Sam dazu sagte. Die Kids würden in seinem Gesicht nach Hinweisen suchen, abwarten, wie er reagierte, ob er nickte oder lachte oder hämisch grinste oder eine warnende Miene aufsetzte.
Orc war ebenfalls in der Menge aufgetaucht. Die Leute traten beiseite, um ihn vorbeizulassen. Astrid erspähte jetzt auch Dekka, die von den anderen wie immer gemieden wurde, als wäre sie von einem Kraftfeld umgeben. Die Einzige, die nirgends zu sehen war, war Brianna. Wahrscheinlich war sie noch zu krank.
»Es ist so weit«, sagte Albert, der auf einmal hinter ihr aufgetaucht war.
»Was? Jetzt schon?«
»Sobald sie gegessen haben, verteilen sie sich in alle Himmelsrichtungen. Der Grund, warum sie hier sind und sich benehmen, ist das Essen. Danac h …«
»Okay.« Astrids Herz fing an zu hämmern, als sie sich ihre Zettel schnappte. Sie sprang viel zu rasch auf, verlor auf den Stufen kurz das Gleichgewicht und wäre beinahe gestolpert. In der Menge wurde sie von ein paar Kids begrüßt, andere riefen ihr grobe oder feindselige Bemerkungen zu, doch die meisten registrierten sie nicht einmal. Ihr Blick klebte an den kleinen Feuerstellen und den aus Kleiderhaken gebastelten Spießen mit Fleisch- und Fischstückchen, die vor sich hin brutzelten und ihren betörenden Duft verbreiteten.
Richtig wahrgenommen wurde sie erst, als sie den Brunnen erreicht hatte, auf den Rand stieg und ihre Zettel auseinanderfaltete.
»Hört mal alle her!«, begann sie.
»Mann!«, rief jemand. »Nicht schon wieder!«
»Ic h … ich muss euch ein paar Dinge sagen, bevor es ans Essen geht.«
Die versammelten Kids stöhnten im Chor. Einer hob einen Erdklumpen auf und warf ihn halbherzig und ohne zu treffen in Astrids Richtung. Orc war mit zwei Schritten bei ihm, neigte sein schauriges Gesicht zu ihm hinunter und knurrte ihn bedrohlich an.
Dann brummte er: »Okay, Astrid, fang an.«
Astrid sah ein Lächeln über Edilios Gesicht huschen. Er war einer der wenigen, die wussten, dass sie Orc eine Zeit lang Nachhilfe in Mathe gegeben hatte.
»In Ordnung.« Astrid atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Ic h … also gut. Seit wir in der FAYZ leben, hat sich unser Leben völlig verändert. Seither haben wir vor allem versucht, von einem Tag auf den anderen über die Runden zu kommen. Wir haben Glück gehabt, weil einige von uns hart gearbeitet und andere große Gefahren auf sich genommen haben, damit wir es alle schaffen.«
»Dürfen wir jetzt essen?«, rief einer von den Kleineren.
»Wir haben uns aufs Überleben konzentriert und darauf, mit unserem Verlust fertig zu werden. Doch wir dürfen nicht vergessen, auch an unsere Zukunft zu denken, denn wir werden noch eine Weile hier sein. Vielleicht sogar für den Rest unseres Lebens.«
Das löste lautes Schimpfen aus.
»Wir brauchen
Weitere Kostenlose Bücher