GONE Lügen
noch zahllose Möglichkeiten, sich zu verstecken. Zu viele Winkel und Nischen und dazu all die Maschinen und Geräte, hinter denen jemand lauern könnte.
»Eine Ratte«, murmelte er noch einmal.
Und nicht Drake.
Nein, Drake war sicher in Perdido Beach und nicht hier.
Der Reaktorraum lag still und düster vor ihm. Er hatte nichts entdeckt. Nichts erfahren. Und nichts erreicht.
Sam fuhr mit der Hand unter sein T-Shirt. Er berührte seine Schulter, tastete Brust und Bauch ab, ließ die Finger bis zum Rücken wandern, wo sie auf die frischen Striemen von Drakes Peitsche stießen. Schlimmer war aber die Erinnerung an die alten Wunden.
Er war hier und er war am Leben. Verletzt, das schon, aber seine Haut hing ihm nicht in Fetzen herunter.
Er spürte, dass es richtig gewesen war, hierher zurückzukehren. Dieser Ort war der Inbegriff all seiner Ängste. Er hatte sich ihm stellen müssen. Denn auch wenn er hier um den Tod gebettelt hatte, war er am Ende nicht gestorben.
Er löschte eine Kugel nach der anderen, bis nur noch schwaches Dämmerlicht herrschte.
Einen Moment lang blieb er noch stehen, hoffte, zum letzten Mal hier gewesen zu sein, dann drehte er sich um und machte sich auf den Heimweg.
Als Brittney erwachte, lag ihr Gesicht im Sand. Eine Schrecksekunde lang dachte sie, wieder unter der Erde zu sein.
Sie drehte sich auf den Rücken, öffnete blinzelnd die Augen und stellte erstaunt fest, dass die Sonne immer noch am Himmel stand.
Sie befand sich jenseits der Flutgrenze und mehrere Meter vom Ufer entfernt. Am Wasserrand lag ein durchnässter Klumpen von der Größe eines Menschen, und als sie genauer hinsah, erkannte sie die im Trockenen liegenden Beine, als wäre er ins Wasser gelaufen, gestolpert und anschließend ertrunken.
Brittney stand auf. Sie wollte sich den feuchten Sand von den Armen wischen, bekam ihn aber nicht ab. Er blieb auf der grauen Dreckschicht kleben, die sie von Kopf bis Fuß bedeckte.
»Tanner?«
Ihr Bruder war nicht da. Plötzlich überkam sie eine solche Angst, dass sie zu zittern anfing.
»Was bin ich?«, fragte sie laut.
Sie konnte den Blick nicht von der Leiche wenden und sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Füße wie von selbst in Bewegung setzten. Sie musste nachsehen, obwohl sie wusste, dass das, was sie sehen würde, ihr Untergang wäre.
Brittney stand vor dem leblosen Körper und blickte auf ihn herab. Das Hemd war in Streifen gerissen, das Fleisch aufgedunsen und zerfetzt. Von einer Peitsche.
Aus ihrer Kehle drang ein erstickter Laut. Das musste passiert sein, als sie nur wenige Meter entfernt bewusstlos im Sand gelegen hatte. Sie war die ganze Zeit da gewesen, als der Dämon diesen armen Jungen erschlug.
»Der Dämon.« Tanner war neben ihr aufgetaucht.
»Ich habe ihn nicht aufgehalten, Tanner. Ich habe versagt.«
Als Tanner nichts erwiderte, blickte Brittney ihn ängstlich an. »Was geschieht mit mir, Tanner? Was bin ich?«
»Du bist Brittney. Ein Engel des Herrn.«
»Du verschweigst mir etwas, ich weiß es. Ich spüre es. Ich weiß, dass du mir nicht alles sagst.«
Tanner verzog keine Miene. Er antwortete nicht.
»Tanner, du bist nicht echt. Du bist tot und begraben. Ich bilde mir das alles ein.«
Sie betrachtete den feuchten Sand. Da waren zwei Paar Fußabdrücke. Ihre eigenen und die des toten Jungen. Es gab aber noch ein drittes Paar, dessen Abdrücke jedoch nicht bis zum Strand reichten. Sie waren nur hier. Als gehörten sie jemandem, der aus dem Nichts aufgetaucht war.
Als Tanner immer noch schwieg, flehte Brittney ihn an: »Sag mir die Wahrheit, Tanner! Bitte!« Und dann flüsterte sie mit bebender Stimme: »War ich das?«
»Du bist hier, um gegen den Dämon zu kämpfen«, sagte Tanner.
»Wie kann ich gegen einen Dämon kämpfen, wenn ich nicht weiß, wer oder was er ist, und wenn ich nicht einmal weiß, was ich bin?«
»Sei Brittney«, erwiderte Tanner. »Brittney war gut und mutig und vertraute auf ihren Glauben. Brittney wandte sich an Gott, wenn sie schwach wurde.«
»Sie ›war‹ … ?«
»Du wolltest die Wahrheit hören.«
»Ich bin tot, stimmt’s?«
»Brittneys Seele ist im Himmel, aber du bist hier. Und du wirst dem Dämon standhalten.«
»Ich unterhalte mich mit dem Echo meines eigenen Denkens«, sagte Brittney zu sich selbst. Sie kniete sich hin und legte eine Hand auf den nassen, zerzausten Kopf. »Du armer Junge.«
Dann stand sie auf und wandte sich der Stadt zu. Dort musste sie jetzt hingehen, denn dorthin würde der
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