GONE Lügen
stecken geblieben, wo es sich in der Strömung hob und dann wieder über Gestein schrappte.
Die Jacht gehörte ihren Eltern. Sie hatten nicht einmal gewusst, dass sie auf dem Weg zu ihnen gewesen waren.
»Was ist passiert?«, fragte Peace mit bebender Stimme.
Diesmal antwortete Virtue. »Sie müssen auf dem Weg hierher gewesen sein und dan n … dann ist es einfach auf Grund gelaufen.«
»Warum hat Captain Rocky das nicht verhindert?«
»Weil er wie alle anderen Erwachsenen verschwunden ist«, hatte Sanjit festgestellt, dem beim Anblick der beschädigten Jacht klar geworden war, dass es nur so gewesen sein konnte.
Sie waren allein auf der Insel. Vielleicht sogar allein auf der ganzen Welt.
»Jemand wird kommen«, hatte er noch gesagt, ohne es selbst zu glauben.
Also hatten sie gewartet. Zuerst Tage, dann Wochen und schließlich Monate.
Eines Tages hatten sie damit begonnen, das Essen zu rationieren, nur für alle Fälle. Es mussten immer riesige Mengen an Lebensmittelvorräten im Haus bereitstehen, da ihre Eltern hin und wieder Lust auf spontane Riesenpartys bekamen, zu denen sie dann Hunderte Leute einluden, die im eigenen Hubschrauber oder Privatjet anreisten.
Zu diesen Gelegenheiten verwandelte sich die Insel in ein Lichtermeer und überall standen berühmte Leute in teuren Klamotten herum, die aßen und tranken und viel zu laut lachten, während sie, die Kinder, auf ihren Zimmern bleiben mussten, bis sie nach unten gebracht wurden, um Guten Abend zu sagen. Dann mussten sie sich anhören, was sie doch für fantastische Eltern hatten, die »diese Kinder« gerettet und sich ihnen gegenüber so großzügig erwiesen hatten.
Sanjit hatte sich nie als gerettet betrachtet.
Das Problem waren zurzeit also nicht die Vorräte, sondern der zur Neige gehende Dieseltreibstoff für den Generator und Bowie. Vor allem Bowie.
Er wurde einfach nicht mehr gesund. Sanjit, dem es normalerweise gelang, jeder Verantwortung aus dem Weg zu gehen, schaffte es diesmal nicht. Das hätte nämlich bedeutet, Bowie sterben zu lassen.
Es gab nur zwei Möglichkeiten, die Insel zu verlassen. Mit einem Boot, das nicht funktionstüchtig war, oder mit dem Hubschrauber, den sie nicht fliegen konnten.
Jedenfalls war der Moment gekommen, sich zu überlegen, für welche der beiden gleichermaßen unmöglichen Optionen sie sich entscheiden sollten.
Sanjit und Virtue hatten beschlossen, sich an einem Seil zur Jacht herabzulassen. Sanjit wickelte es gerade um den Stamm eines nicht sehr kräftig aussehenden Baums, band es fest und warf das andere Ende über den Rand der Klippe.
»Der Baum fliegt uns wahrscheinlich um die Ohren«, scherzte er, bevor sie sich einer nach dem anderen abseilten.
Zweimal verlor Sanjit den Halt und rutschte bäuchlings ab, bis er es schaffte, mit den Füßen ein Gestrüpp oder einen Felsvorsprung zu erwischen.
Als sie unten waren, stellte sich die Frage, wie sie an Bord gelangen sollten.
»Wie kommen wir da rauf?«, sprach Virtue sie laut aus.
»Gute Frage, Choo.«
»Ich dachte, du bist Sanjit, der Unbesiegbare?«
»Unbesiegbar, aber nicht furchtlos.«
Virtues Miene verzog sich zu einem gequälten Lächeln. »Wir könnten auf den Felsen klettern, vielleicht erreichen wir von dort aus das Geländer und können uns hochziehen.«
Von hier unten sah das Boot gigantisch aus, und auch das Auf- und Abschaukeln des eingedrückten Bugs wirkte aus der Nähe viel gefährlicher als von oben.
»Okay«, sagte Sanjit. »Wenn, dann mach ich das.«
»Ich kann besser klettern als du.«
Sanjit fasste ihn an der Schulter. »Choo, mein Bruder, es kommt nicht oft vor, dass ich mutig bin und mich aufopfere. Jetzt ist so ein Moment. Genieß ihn. Vielleicht ist es der letzte.«
Ohne Virtues Reaktion abzuwarten, stieg Sanjit auf den Felsvorsprung und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Auf der abschüssigen, mit Algen bedeckten und gischtnassen Felsoberfläche rutschten seine Turnschuhe immer wieder weg, doch als er eine bestimmte Höhe erreicht hatte, konnte er sich mit einer Hand am weißen Schiffskörper abstützen und befand sich schließlich auf Augenhöhe mit dem Deck.
Er streckte die Hände nach der unteren Stange der zerbrechlich aussehenden Reling aus und zog sich hoch, bis seine Ellbogen zwei Neunziggradwinkel bildeten und seine Beine in der Luft hingen. Ließe er jetzt los, könnte er sich glücklich schätzen, den Sturz mit einem gebrochenen Knöchel zu überleben.
Er winkelte ein Bein an, schob es unter das
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