GONE Lügen
brachte, wirkte verschreckt.
Die ungewohnte Stille auf der Insel hatte etwas Bedrückendes. Das riesige Haus, in dem es Zimmer gab, die sie bisher nie betreten hatten und die jetzt kein Mensch mehr benutzte, wirkte plötzlich so groß und verlassen wie ein Museum. Als sie die Wohnung des Butlers durchsuchten und zum ersten Mal die Zimmer der Nanny im Obergeschoss und die Bungalows und Schlafräume der anderen Bediensteten betraten, fühlten sie sich wie Eindringlinge.
An jenem ersten Abend hatte sich die Stimmung jedoch schlagartig gebessert, als sie in das Haupthaus zurückkehrten und auf der Suche nach einem Abendessen den begehbaren Kühlraum öffneten.
»Es gibt ja doch Eis!«, hatte Bowie gerufen. »Sie haben uns angelogen. Hier gab’s die ganze Zeit Eis. Tonnenweise!«
Im Kühlraum lagerten fünf Zwanzigliterkübe l Eis!
»Überrascht dich das?«, meinte Sanjit und klopfte Bowie auf die Schulter. »Der Koch wiegt locker hundertfünfzig Kilo und Annette ist auf dem besten Weg dorthin.« Annette war das Dienstmädchen, das die Kinderzimmer sauber machte.
»Dürfen wir was davon haben?«
Als sie ihn zum ersten Mal um Erlaubnis fragten, war Sanjit verblüfft gewesen. Okay, er war der Älteste, aber das machte ihn doch noch lange nicht zum Anführer.
»Da fragst du mich?«
Bowie zuckte nur mit den Schultern. »Du bist doch jetzt für uns verantwortlich, oder?«
»Na gut, als vorläufiger Verantwortlicher bestimme ich, dass wir heute Eis zu Abend essen. Bringt einen Kübel her und fünf Löffel. Wir hören erst auf, wenn wir auf Grund stoßen.«
Damit waren alle zufrieden gewesen, bis Peace irgendwann wie in der Schule die Hand hob.
»Du musst dich nicht melden«, hatte Sanjit gesagt. »Was gibt’s?«
»Was passiert jetzt?«
Darüber musste er erst mal kurz nachdenken. Sanjit machte sich eigentlich nie viele Gedanken, er war eher jemand, der Witze riss und das Leben nicht besonders ernst nahm. Das Leben ernst zu nehmen, war Virtues Job.
In den Straßen von Bangkok war Sanjits Leben voller Gefahren gewesen: Er musste sich vor den Bossen der Sklavenbetriebe in Acht nehmen, die Kinder wie ihn kidnappten und zu vierzehn Stunden Arbeit am Tag zwangen, vor den Bullen, die sofort losprügelten, und den Ladenbesitzern, die ihn mit Bambusstöcken davonjagten, wenn er vor ihrem Obst stand, doch am meisten vor den Zuhältern, die ihn an irgendwelche Typen aus dem Ausland verschachern wollten.
Sanjit hatte immer versucht, über diese Dinge zu lachen, anstatt an ihnen zu verzweifeln. Ganz egal wie hungrig, wie verängstigt oder krank er war, er hatte nie aufgegeben. Er war kein Schläger geworden wie viele andere und hatte nur gestohlen, um zu überleben. Im Laufe der Jahre hatte er auf diesen wunderbar aufregenden, beängstigenden, jedoch nie langweiligen Straßen gelernt, cool zu bleiben. Nach dem Motto: Lebe von einem Tag zum nächsten und mach dir keine Sorgen. Das hatte ihn von den anderen unterschieden. Wenn er genug zu essen hatte und einen Karton, in dem er schlafen konnte, und wenn die Lumpen, die er trug, nicht zu verlaust waren, war er schon zufrieden gewesen.
»Na ja«, hatte er schließlich geantwortet und in die erwartungsvollen Gesichter geschaut, »wir haben genug zu essen. Deshalb würde ich vorschlagen, wir warten jetzt erst mal ab. Was meint ihr?«
Damit waren an diesem ersten Tag alle einverstanden gewesen. Sie waren es gewohnt, aufeinander aufzupassen und sich nicht übermäßig auf die Erwachsenen zu verlassen. Also waren sie nach oben gegangen, hatten sich die Zähne geputzt und waren in ihre Betten gekrochen. Sanjit hatte die Kleinen zugedeckt und war dann in sein Zimmer gegangen. Als Erste war Pixie zu ihm unter die Decke geschlüpft, gleich darauf Peace und schließlich auch noch Bowie.
Am nächsten Morgen waren sie zur gewohnten Zeit aufgestanden und nach unten gegangen. Sie hatten sich ein Frühstück genehmigt, das hauptsächlich aus Toastscheiben mit dicken Schichten verbotener Butter und verbotener Marmelade und extradicken Schichten verbotener Nutella bestanden hatte.
Dann waren sie nach draußen gegangen und hatten zum ersten Mal das seltsame Knirschen gehört.
Nachdem sie dem Geräusch bis zum Klippenrand gefolgt waren, hatten sie in dreißig Meter Tiefe die Jacht entdeckt. Das weiße Luxusboot, das groß genug war, um den privaten Hubschrauber zu transportieren, lag schwer beschädigt am Fuß der Felswand. Es war auf Grund gelaufen und mit dem Bug zwischen zwei Felsen
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