Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Selbständigkeit zu sein. »Park ist manchmal keine große Hilfe.«
»Kann ich deiner Mutter irgendetwas bringen?«, fragte Mama. »Wenn es um ihre Lunge geht, sind in Salz eingelegte Hummeln sehr wirksam.«
»Es ist ihr Herz«, antwortete Matt. Seine Augen waren voller Wärme, als er den Blick zu uns hob. »Sie hat ihre eigene Medizin, aber trotzdem vielen Dank, Frau Chang.«
Mama lächelte mir zu, als wir unseren Weg fortsetzten. »Er ist doch netter, als ich dachte.«
Ich musste unbedingt mein Englisch verbessern. Statt wie bisher nur die Wörter aufzuschreiben, die ich nicht kannte,
und ihre Bedeutung nachzuschlagen, fing ich bei A im Wörterbuch an und versuchte, alle Wörter auswendig zu lernen. Ich schrieb die Liste ab und hängte sie an die Innenseite der Badezimmertür. Das phonetische Alphabet hatte ich bereits in Hongkong gelernt, und das erleichterte mir die richtige Aussprache, auch wenn mir noch immer viele Fehler unterliefen. Mit der Klasse gingen wir einmal die Woche in die Leihbücherei, wo ich mir jedes Mal einen Stapel Bücher auslieh. Ich begann mit den beschämend dünnen Büchern für kleine Kinder und arbeitete mich langsam die Altersstufen hinauf. Ich nahm die Bücher einfach mit in die Fabrik und las sie in der U-Bahn. Auch meine Hausaufgaben machte ich größtenteils in der U-Bahn oder in der Fabrik, und die größeren Schulprojekte arbeitete ich sonntags ab.
Als es Anfang Februar Zeugnisse gab, bekam ich zwar keine guten Noten, bestand aber zumindest in den meisten Fächern. Gemeinsam mit meinen Klassenkameraden hatte ich die landesweiten Lese- und Mathematikprüfungen abgelegt, wusste aber noch nicht, wie ich dabei abgeschnitten hatte. Auf meinem Zeugnis stand die Note »gut« für Naturwissenschaften und Mathe und ansonsten überwiegend die Note »befriedigend«. Nur in wenigen Fächern hatte ich mit »ausreichend« abgeschnitten. Unter Bemerkungen hatte Mr Bogart geschrieben: »Kimberly muss lernen, sich größere Mühe zu geben. Bitte kommen Sie zum Elternsprechtag. Sie müssen noch eine Zahnarztbescheinigung nachreichen!« Wie sollten wir uns einen Zahnarzt leisten können? Was ein Elternsprechtag war, wusste ich nicht, aber ich wusste, dass ich Mama auf keinen Fall mein Zeugnis zeigen konnte. Ich machte ihr weis, dass es nur am Ende des Schuljahrs Zeugnisse gab, und fälschte ihre Unterschrift. Das fiel mir nicht weiter schwer, schließlich hatte ich von Anfang an für sie unterschrieben.
Das Eis auf der Innenseite unserer Fenster schmolz nach und nach, und ich konnte wieder hinaus in die Außenwelt blicken.
Ende Februar fing der Klassenfiesling an, mich anzustarren. Er hieß Luke und war ein paar Mal sitzengeblieben, weshalb er einen Kopf größer war als der Rest von uns. Um seine breite Brust schlabberte lose das immer gleiche schmutzig graue T-Shirt, und seine Nasenlöcher waren gebläht wie die eines Stieres. Selbst Mr Bogart schien ihn aufgegeben zu haben und ließ ihn die meiste Zeit in Ruhe. Ich hatte schon häufig beobachtet, wie Luke die anderen Kinder herumschubste. Wenn es jemand wagte, sich zu wehren, behandelte er denjenigen doppelt brutal. Seine wichtigsten Waffen waren seine Beine. Es machte ihm Spaß, Mitschüler zu Boden zu stoßen und dann auf sie einzutreten. In der Schule ging das Gerücht um, dass Luke, nachdem ihm ein Kind den Kopf in den Bauch gerammt hatte, ein Messer gezogen und damit auf das Kind eingestochen habe. Er benutzte auch viele Wörter, die ich nicht kannte, wie Schwans und Wicksa.
Ich fragte Annette, ob sie wusste, was Wicksa bedeutete.
»Das weiß doch jeder.« Ihr Lächeln war selbstsicher. »Das bedeutet Kacke.«
Annette hatte mir vor kurzem verraten, dass sie im nächsten Schuljahr auf eine Privatschule namens Harrison Preparatory School gehen würde. Ich selbst würde natürlich auf eine staatliche Mittelschule gehen. Wie sollte ich bloß ohne sie zurechtkommen?
Wir verabschiedeten uns von Mr Al. Ein großer Umzugswagen hatte den Großteil seines Warenbestands abtransportiert, aber er hatte ein paar Klappstühle und eine Einzelmatratze für uns zurückgehalten.
»Vielen Dank, Mr Al«, sagte ich. Ich freute mich riesig, endlich wieder meinen eigenen Schlafplatz zu haben.
»Mmm sai «, erwiderte er, ein misslungener Versuch, »gern geschehen« auf Kantonesisch zu sagen.
»Ihr Chinesisch ist sehr gut«, log ich. Zum Glück wusste ich genau, was ich ihm beigebracht hatte, und erriet daher meist, was er mir sagen
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