Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
etwas frei. Ich habe schon in der Fabrik herumgefragt.«
In meinem Gehirn rotierte es immer noch. »Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es gesetzeswidrig ist, wie wir hier wohnen. Das Gebäude ist doch völlig heruntergekommen. Das ist wahrscheinlich auch der wahre Grund dafür, dass ich in der Schule eine falsche Adresse angeben musste.« Ich wurde immer verwegener: »Mama, lass uns weglaufen! Wir könnten eine neue Arbeit in einer anderen Fabrik finden. Tante Paula muss gar nichts davon mitbekommen.« In Hongkong hätte ich nie gewagt, so mit Mama zu sprechen und offen mit ihr über Erwachsenenthemen zu diskutieren, aber dort hatte ich auch nie so viel Verantwortung tragen müssen. Noch nie hatte ich mir so sehnlich gewünscht, unsere Lebensumstände ändern zu können, wie jetzt.
Mama sah mir tief in die Augen. »Und unsere Schulden bei ihr? Sie hat uns hierhergebracht, ah- Kim. Sie hat meine Medikamente bezahlt, unsere Greencards und die Flugtickets. Hier geht es nicht darum, ob wir damit durchkommen, hier geht es um Ehre.«
»Ihr gegenüber?« Ich zupfte an einer Haarsträhne, frustriert von Mama und ihrer Integrität.
»Sie hat uns eine Unterkunft und eine Arbeit besorgt. Sie ist meine Schwester und deine Tante. Wenn andere sich falsch verhalten, ist das noch lange kein Grund, sich selbst untreu zu werden, findest du nicht? Wir sind anständige Menschen, und wir bezahlen unsere Schulden.«
Ein Teil meiner Wut verebbte. Ich hasste es, an Tante Paula gefesselt zu sein, aber mir war klar, dass Mama erst ein anderer Mensch werden müsste, bevor sie es in Erwägung zog, ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachzukommen. »War Tante Paula schon immer so, auch als junges Mädchen?«
Mama zögerte. Ich wusste, dass sie nicht gerne schlecht über andere sprach, schon gar nicht über Familienangehörige.
»Als wir alleine in Hongkong waren, hat sich Tante Paula um alles gekümmert. Sie war schlau und erfinderisch. Sie hat eine Ausbildung zur Goldschlägerin gemacht, damit ich die Schule beenden konnte.« Goldschläger schlagen Gold zu Blattgold. »Eigentlich war ich diejenige, die einen amerikanischen Chinesen heiraten sollte, weil ich außer Musik keinerlei Talente besaß und weil mich manche Leute für hübsch hielten. Aber dann bot mir dein Vater eine Stelle an seiner Schule an. Kurz darauf haben wir geheiratet.«
»War Tante Paula böse?« »Na ja, das war sie. Aber sie war schon immer sehr praktisch veranlagt, und als Onkel Bob auftauchte, hat sie ihn einfach selbst geheiratet.«
»Du hättest eigentlich Onkel Bob heiraten sollen?« Es waren beinahe zu viele Überraschungen für einen einzigen Tag.
»Er kam nach Hongkong, um sich mit einer ganzen Reihe von Leuten zu treffen«, sagte Mama. Er hatte also die Wahl aus mehreren Mädchen gehabt. »Aber ein Bekannter von uns hatte ihm ein Foto von mir gegeben … Jedenfalls hat auch Tante Paula schwere Zeiten hinter sich.«
Am nächsten Tag sprachen Mama und ich im Büro noch einmal mit Tante Paula.
»Warum hast du uns nicht gesagt, dass unser ganzer Block abgerissen wird?«, fragte Mama vorsichtig.
Tante Paula hob die dünnen Augenbrauen, offenbar überrascht, dass wir davon bereits wussten. »Weil es unwichtig war. Ich habe euch doch gesagt, dass ihr nur vorübergehend dort wohnt. Macht euch also keine Sorgen deswegen. Selbst wenn ihr wolltet, könntet ihr nicht mehr allzu lange dort wohnen bleiben.«
»Wie lange noch?«, fragte Mama.
»Nicht mehr lange«, antwortete Tante Paula. Sie kratzte sich geistesabwesend an der Wange. »Ich lasse es euch wissen, sobald es etwas Neues gibt. Und jetzt gehen wir alle besser wieder an die Arbeit.« Ihre Lippen wurden schmal. »Bei der letzten Lieferung hättest du es fast nicht rechtzeitig geschafft.«
»Ich weiß«, gab Mama zu. »Ich werde mich noch mehr anstrengen.«
»Wir sind zwar eine Familie, aber ich kann nicht zulassen, dass die anderen Arbeiter mich für voreingenommen halten.«
Ihre Drohung hatte gesessen, und wir verließen eilig das Büro.
Als wir auf dem Weg zu unserer Station an den Fadenabschneidern vorbeikamen, war ich überrascht, Matt alleine dort arbeiten zu sehen, ohne Park und seine Mutter.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte ich.
»Ihr geht’s manchmal nicht so gut«, antwortete Matt, ohne sein Tempo zu drosseln. Er musste das Pensum seiner Mutter mit übernehmen. »Sie hat Park heute bei sich zu Hause behalten, damit ich ungestört arbeiten kann.« Er schien stolz auf seine
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