Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Annette und ihrer Haushälterin unmöglich zeigen, wo wir wohnten. Und Mama erwartete mich in der Fabrik. Außerdem würde mir Luke dann einfach morgen wieder auflauern, oder übermorgen. Je länger ich wartete, desto schlimmer wurde es. Er starrte mich nun schon eine ganze Weile an.
»Nein«, erklärte ich. »Ich mit ihm kämpfe.«
Als der Unterricht zu Ende war, war ich so nervös, dass ich meine Magensäure auf der Zunge schmeckte. Obwohl ich schon häufig Schlägereien auf dem Schulhof mitbekommen hatte, war ich noch nie geschlagen, getreten oder bespuckt worden und hatte auch noch nie selbst zugeschlagen. In Hongkong hatte ich mit Mama ab und zu Tai-Chi im Park gemacht, aber da die meisten Teilnehmer über siebzig gewesen waren, hatte ich wenig gelernt, das sich bei einem Straßenkampf in Brooklyn anwenden ließe.
Inzwischen hatte die ganze Schule Wind von der geplanten Schlägerei bekommen, und so wurden wir von einem dichten Kreis aus Schülern umringt, die Kämpfen, Kämpfen, Kämpfen riefen. Wie Trommelschläge hallten die Rufe durch die Luft. Annette verschwand in der Menge, und ich blieb allein in der Mitte des Kreises zurück. Mir gegenüber wartete Luke: ein großes graues Kriegsschiff. Ich reichte ihm nur bis zum Kinn und war halb so schwer wie er. Luke stammte aus einem der härtesten Viertel Brooklyns, wo der Briefträger nicht mal die Post auszuliefern wagte, und war erst vor kurzem in die Gegend gezogen. Meine Angst war jetzt so groß, dass ich alles dafür gegeben hätte, niemals nach Amerika gekommen zu sein.
Aber ich lief nicht davon. Wo hätte ich auch hinlaufen sollen? Obwohl meine Finger taub und eiskalt waren, spürte
ich, wie in meinem Inneren ein starkes Gefühl von Eigensinn erwachte, und eine aus der Panik geborene Ruhe ergriff von mir Besitz. Ich entstamme einer Blutlinie großer chinesischer Kämpfer. Einer meiner Vorfahren war sogar ein berühmter Krieger zu Zeiten der Tang-Dynastie. Flüchten kam also nicht in Frage. Systematisch und kaum hörbar fing ich an, Luke auf Chinesisch zu verfluchen: Du hast das Herz eines Wolfs und die Lunge eines Hundes! Dein Herz wurde von einem Hund ausgeweidet!
»Was redest du da, dammte Scheiße?«, fragte Luke.
Ich antwortete nicht, sondern murmelte weiter vor mich hin, als würde ich beten. Wir umkreisten einander, und sein Schatten ragte drohend über mir auf.
»Du bist so seltsam«, sagte er. Plötzlich nahm er seine Schultasche ab, holte Schwung und traf mich damit in die Seite. Ich wurde herumgeworfen und drehte ihm den Rücken zu. Dann spürte ich einen dumpfen Schlag: Er hatte gegen meine Schultasche getreten. Ich nahm sie ab und rammte sie ihm in den Arm und schleuderte sie dann immer wieder links und rechts gegen seinen fleischigen Körper, bis sich irgendwann der Stoff seiner Jacke darin verfing. Zu meinem Erstaunen versuchte er gar nicht erst zurückzuschlagen. Ich holte mit dem rechten Bein aus und trat ihn in die Wade.
»Scheiße!«, heulte er auf. Sekundenlang flackerte etwas Wildes in seinen Augen auf, aber er schlug immer noch nicht zurück. Stattdessen legte er die Hand auf meine Schulter und gab mir einen halbherzigen Schubs, so dass ich einige Schritte zurücktaumelte. Dann schwang er sich die Tasche über die Schulter und zockelte davon.
Annette warf sich an meinen Hals. »Ich wusste gar nicht, dass du kämpfen kannst!«, rief sie. »Du kannst ja Kung-Fu!«
Ich widersprach ihr nicht, obwohl ich genau wusste, dass ich weder kämpfen konnte noch gekämpft hatte. Benommen ging ich nach Hause. Luke hätte mich problemlos umbringen können. Was war passiert?
Am nächsten Tag machte die Schulleiterin Mrs LaGuardia mitten im Sozialkundeunterricht die Tür unseres Klassenzimmers auf und sagte: »Mr Bogart, ich muss mit Kimberly Chang sprechen.«
Ein leises »Oooooh« ging durch die Klasse, einige Kinder schlugen sogar die Hände vor den Mund. Auch wenn hinter Mrs LaGuardias Rücken Witze über ihre Namensverwandtschaft mit dem New Yorker Flughafen kursierten, war sie allseits respektiert und gefürchtet. Ich spürte, wie meine Brust zu Eis gefror, und sah zu Luke hinüber, der meinem Blick auswich. Wer hatte uns verpetzt?
Mr Bogart nickte. »Mach uns ja keine Schande, Kimberly.«
Ich musste mich anstrengen, um mit Mrs LaGuardias langen, geschmeidigen Schritten mitzuhalten. In ihrem Büro schloss sie die Tür hinter uns, nahm die Brille von der Nase und ließ sie an einer Silberkette vor der Brust baumeln. Ich setzte
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