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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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denen in roter Tinte das Wort »Mittagessen« zu lesen war. Vor mir stand ein Afrikaner in einem Mantel aus Schaffell   – ein ausländischer Student an irgendeiner Leningrader Hochschule   – und wies höflich darauf hin, dass die Schließung von zwei der drei offenen Schalter zur Mittagszeit, wenn sich die Schlange bis nach draußen erstrecke, vielleicht nicht gerade die wirksamste Art und Weise sei, dem Volk zu dienen. »Sie verschwenden ihre Zeit mit Anstehen, anstatt ihren Beitrag zur Gesellschaft und dem Fünf-Jahres-Plan zu leisten«, sagte er ruhig, mit ernster Miene, ohne den geringsten Grammatikfehler. Die Menge verstummte, ein Meer von Weiß um ein einziges dunkles Gesicht. Daraufhin schob eine Fahrkartenverkäuferin das »Mittagessen«-Schild beiseite und lehnte sich aus dem Fenster, wobei ihr Polyester-Busen über den Tresen hing. »Wir haben Ihnen Russisch beigebracht«, fuhr sie den Afrikaner zornig an, indem sie jedes einzelne Wort betonte, als würde sie ein Dekret von Lenin verlesen   – voller Missbilligung wegen seines gut sitzenden Mantels, wegen seiner ruhigen Stimme, wegen seiner Andersartigkeit. »Wir haben Ihnen Russisch beigebracht, jetzt halten Sie den Mund!«
    |391| Auf dem kratzigen Taxisitz schmiege ich mich an Robert. »Jetzt halten Sie den Mund«, flüstere ich in sein Ohr, worauf er seinen Arm um mich legt. Ich habe ihm alles Mögliche über Russland beigebracht, und er hat mir die Macht verliehen, es zu verlassen. Er riecht nach dem blauen Shampoo, das er mitgebracht hat, ein kühler, antiseptischer Duft. Er riecht nach Amerika und einem anderen Leben.

|392| 20
ABSCHIED
    Ich stehe auf dem Treppenabsatz im ersten Stock der Philologischen Fakultät, dem »Philodrom«   – einem Treffpunkt, wo geraucht und der jüngste Klatsch ausgetauscht wird. Beim Klatsch geht es neuerdings immer um mich: eine Lehrkraft mit befristetem Vertrag und mögliche Anwärterin auf ein Aufbaustudium, die einen Kapitalisten geheiratet hat und nach Amerika gehen wird.
    Nach der Trauung hat es drei Wochen gedauert, bis alle notwendigen Unterlagen beisammen waren und von der Visumabteilung akzeptiert worden sind. Jetzt brauche ich nur noch auf mein Ausreisevisum zu warten. Mein Arbeitsnachweis ist aus den Beständen des Universitätsarchivs kopiert und notariell beglaubigt, mein Leningrader Wohnsitz abgemeldet, die Ausreisegenehmigung von meiner Mutter unterschrieben und mein Komsomol-Mitgliedsausweis sicher in einem Safe verwahrt worden, für den Fall, dass ich zurückkehre und mich wieder einreihe. Zu Hause sprechen wir zum Glück so viel über die Mühlen der Verwaltung und die unwirschen Bürokraten, dass ich es vermeiden kann, über meine Abreise zu sprechen.
    In zehn Minuten muss ich im Büro des Dekans sein, ein Termin, den ich auf Geheiß des Parteisekretärs der Fakultät unbedingt einzuhalten habe. Er war vor Wut so außer sich, dass |393| er kaum ein Wort herausbrachte, da er die Zähne nicht auseinanderbekam. Dieses Treffen würde auf eine weitere Bekundung offizieller Entrüstung, auf eine Pro-forma-Rüge hinauslaufen.
    Ich habe den Dekan noch nie zuvor zu Gesicht bekommen, weshalb der bislang einzige Beweis für seine Existenz eine hastig hingeworfene Unterschrift auf den ans Schwarze Brett gehefteten Statuten des Fachbereichs ist, Dekan Maslow. Ich klopfe zaghaft an die Tür, als wollte ich nicht, dass er es hört, als würde mich die Tatsache, dass er es nicht hört, von diesem Termin entbinden. Doch fordert mich die Stimme dort drinnen auf einzutreten, und ich öffne die knarrende Tür. Sein Büro ist vollgestellt mit Stühlen und Aktenschränken, ringsumher liegen überquellende Aktenordner; es riecht nach Tabakrauch und Staub. Ein faltenloser Breschnew in Öl blickt missbilligend von der Wand über dem Schreibtisch herab. Dekan Maslow ist klein und beleibt, seine Körperfülle gut verstaut in einem Anzug. Mit seiner schwarzen Augenklappe und der Pfeife zwischen den Fingern sieht er aus wie ein Pirat. Ein kommunistischer Pirat, ein Piratendekan. Er stößt eine Rauchwolke aus und schreitet zum Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches.
    »Was habe ich da gehört?«, fragt er und mustert mich durch den Rauch hindurch. »Sie werden uns verlassen?«
    »Ich bin mit einem amerikanischen Bürger verheiratet, also werde ich vermutlich von hier weggehen.« Bevor ich herkam, habe ich ein paar Standardsätze aus dem Mülleimer des Jargons aufgelesen, wie sie in Reden und an Türrahmen

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