Gordon
Zeug zu sagen, damit es gescheit klingt!«, fuhr ich fort. »Es ist so wie mit der Dichtung von T. S. Eliot. Kein Mensch versteht ihn, und alle sagen, er sei so gescheit. Und nennen Sie mich nicht Ihr ›armes Kind‹! Ich kann das nicht ausstehen.«
Wir waren Piccadilly entlanggegangen, und jetzt blieb er vor einem Antiquitätengeschäft stehen. »Hier«, sagte er, »das wird Sie beruhigen. Und jetzt sagen Sie mir, warum ich Sie nicht ›mein armes Kind‹ nennen darf.«
»Weil es so traurig ist«, sagte ich. »Es gibt ein Gedicht von Goethe – Mignons Lied. Und darin kommt es vor.
›Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?‹
Mir war immer zum Weinen zumute, wenn ich es gelesen habe. Natürlich werden Sie es nicht kennen.«
»Doch, es kommt mir bekannt vor«, sagte er. »Helfen Sie mir auf die Sprünge. Worum geht’s darin, in groben Zügen?«
»Sie möchte, dass er mit ihr nach Italien zieht«, sagte ich.
»Wer ist er?«, fragte er.
»Ihr Vater«, sagte ich und fügte dann hastig hinzu: »Nein, Entschuldigung, das habe ich durcheinander gebracht. Es ist nicht ganz klar, wer er ist. Denn in der ersten Strophe nennt sie ihn ihren Geliebten. Das ist die mit den Orangen und Zitronen. In der zweiten Strophe nennt sie ihn ihren Vater. Das ist da, wo die Marmorstatuen ins Spiel kommen und die traurige Stelle mit ›Was hat man dir, du armes Kind, getan?‹ … Es ist herzzerreißend. Deswegen mag ich es nicht!«
Und ich wendete mich vom Schaufenster ab und sah zu ihm auf.
»Weiter«, sagte er. In seiner Miene spiegelte sich wieder diese kalte gebannte Aufmerksamkeit, dieser lauernde Ausdruck.
Ich wurde nervös. »Dann wird es wild und schaurig. Hohe Felsen und Drachen und rauschende Fluten. Das alles muss man durchqueren und überwinden, wenn man nach Italien will.«
»Und wie nennt sie ihn in dieser Strophe?«, fragte er.
»Sie nennt ihn ›mein Beschütze‹«, sagte ich. Dann fügte ich hinzu: »Sie wissen nicht viel, wie?«, und bedachte ihn mit einem arroganten Blick.
Er schien es nicht zu bemerken. »Es ist hervorragend«, sagte er. »Es ist äußerst interessant.«
»Natürlich ist es hervorragend«, sagte ich, »es ist von Goethe. Goethe ist immer hervorragend.«
»Ich hatte nicht Goethe gemeint, mein armes Kind«, sagte er, »ich meinte Sie. Sie haben einen hübschen Verstand.«
Ich war erstaunt, wenngleich nicht erfreut über sein Kompliment. Das war nicht die Art von Lob, die ich mir wünschte. Außerdem stimmte es gar nicht. Eine ungefähre Inhaltsangabe von Mignons Lied hätte schließlich jeder zustande gebracht.
»Sie sind sehr leicht zufrieden zu stellen«, sagte ich, während wir unseren Weg fortsetzten. Und doch hatte sein »Sie haben einen hübschen Verstand« mich irgendwie besänftigt, und ich nahm es ihm nicht mehr übel, wenn er mich »mein armes Kind« nannte.
Wir tranken etwas in einem Pub auf der Shaftesbury Lane. Er nahm einen doppelten Whisky und ich einen süßen Sherry, den er, zu meiner Erleichterung, ohne jeden Kommentar bestellte.
»Jetzt lade ich Sie in ein chinesisches Restaurant ein«, sagte er.
»Oh, ich kenne ein wahnsinnig gutes!«, rief ich aus.
»Das ist nicht das, was ich meine«, sagte er.
»Woher wollen Sie wissen, dass das, was ich meine, nicht das ist, was Sie meinen?«, fragte ich.
»Weil Sie ein anderes meinen«, sagte er.
»Und, wie heißt Ihres?«, fragte ich.
»Bellevue«, sagte er.
»Sie sind ein Kretin«, sagte ich. »Das ist doch überhaupt kein Chinesisch!«
»Aber durchaus«, sagte er. »›Bellevue‹ ist Chinesisch für ›Essstäbchen‹.«
Er führte mich in ein Restaurant in der Wardour Street, und ich war froh, dass es nicht das eine in der Shaftesbury Avenue war, an das ich gedacht hatte. Ich spürte, dass es mir den Appetit verdorben hätte, wenn wir dorthin gegangen wären; und es wäre kein Fall von »seinen Erinnerungen nachjagen« gewesen, wie er es neulich ausgedrückt hatte – meine Erinnerungen hätten mich verfolgt. Keine Sorge, sagte ich mir; es würde schon alles gut werden, jetzt, wo ich in London war. Und bis dahin – was kümmerte es mich? Er bestellte für uns beide, ohne mich zu fragen, aber ich nahm es ihm nicht übel. Im Gegenteil, es gefiel mir, obwohl ich bei jedem anderen Anstoß daran genommen hätte.
Er ist einfach nicht mein Typ, sagte ich zu mir, deswegen stört es mich nicht. Und heute, in Uniform, sieht er ganz besonders schlecht aus.
Später
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