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Gordon

Gordon

Titel: Gordon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Templeton
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zu denken und fast aufgehört hatte, irgendetwas zu empfinden, wusste ich nicht mehr, warum ich keuchte oder schrie. Und er machte weiter. Es gibt das Sprichwort »Dem Glücklichen schlägt keine Stunde«, und das traf auch auf mich zu, obwohl ich mittlerweile jenseits von Glück und Traurigkeit war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er je fertig werden würde. Ich war mir nicht einmal mehr meiner selbst bewusst; es war gerade genug von mir übrig, um mir seiner bewusst zu sein, nur seiner, und ununterbrochen. Und er machte weiter.
    Ich bekam gar nicht mit, wann er seinen Höhepunkt erreichte. Seine Atmung blieb so unhörbar, wie sie es die ganze Zeit über gewesen war, aber der Druck seines Körpers veränderte sich, und dann trat Stille ein; ich war zu erschöpft, um zu begreifen, was sie bedeutete. Ich merkte nicht, wann er mich verließ. Ich fühlte mich leicht und schwebte in dieser Stille, als ob das Bettlaken eine Fläche von schweigendem Wasser sei, bis ich seine Finger unter meinem Kopf spürte, am Genick.
    Ich öffnete die Augen und sah ihn, in einen Morgenrock gekleidet, auf der Bettkante sitzen. Ich machte die Augen wieder zu und wandte das Gesicht von ihm ab und spürte, dass er mir die Haarnadeln aus den Zöpfen herauszog, und hörte das Geklirr, als er sie auf den Nachttisch legte.
    Ich trug mein fast hüftlanges Haar in zwei zu einer Krone gewundenen Flechten. Es war die traditionelle »Gretchen-Frisur«, so genannt nach der Heldin von Goethes Faust, eine Frisur, der man in den Gesellschaftskreisen, in denen ich verkehrte, nie begegnete und die man landläufig mit Bauernmädchen aus den Alpenländern in Verbindung bringt.
    Abgesehen davon, dass sie unmodisch war, passte sie nicht zu mir. Ich war kein Gretchen. Ich war nicht blond und blauäugig, ich hatte kein rundes rosiges Gesicht und keine Stupsnase. Ich war weder spröde noch schüchtern noch naiv. Und dennoch besaß ich die eine wesentliche Gretchen-Eigenschaft durchaus, auch wenn ich es damals noch nicht wusste; sie war noch verborgen, aber er musste sie sofort wahrgenommen haben.
    Gretchen wird, mit Mephistos Hilfe, von Faust verführt, bekommt ein Kind, wird wahnsinnig, ertränkt das Kind, tötet ihre Mutter, ist verantwortlich für den Tod ihres Bruders, wird ins Gefängnis geworfen und hingerichtet. Ich will damit nicht sagen, dass mir irgendetwas davon bestimmt war. Ich meine lediglich, dass er in mir die gleiche Bereitschaft erspürt haben musste unterzugehen, einem Mephisto-getriebenen Faust als Gretchen zu dienen.
    Das Geklirr verstummte.
    Er sagte: »All diese furchtbaren Waffen, diese Nadeln und Dolche, die Sie im Haar tragen! Die tragen Sie mit Absicht, um mich zu verletzen. Sie würden mich liebend gern verletzen, nicht wahr?«
    Ich gab keine Antwort.
    Er zog an einem meiner Zöpfe und löste ihn auf und legte mir die entflochtenen Strähnen über die Schulter.
    »Und dabei bin ich so gütig zu Ihnen«, sagte er. »Da, ich löse Ihnen sogar das Haar auf. So überaus gütig. Genau wie ein liebender Vater.«
    Ich setzte mich auf und sagte zornig: »Ja, Sie haben vollkommen Recht, ich würde Sie liebend gern verletzen!«
    Er sah mich mit einem entzückten Lächeln an. »Sie haben so schöne Reaktionen, es ist eine wahre Freude«, sagte er. »Nur ein einfaches, gewöhnliches, harmloses Wort, und schon steigen Sie auf die Barrikaden!«
    »Was denn für ein Wort? Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
    »Ich sag’s Ihnen ein anderes Mal«, sagte er. »Ich möchte Sie jetzt nicht ärgerlich hier haben. Ich muss Sie jetzt schonen, Sie sind noch schwach. Kommen Sie, legen Sie sich wieder hin, und wir führen ein nettes, ruhiges Gespräch. Ausschließlich über nette, angenehme Dinge.«
    Ich legte mich wieder hin.
    Er fing an, meinen zweiten Zopf abzuwickeln und auseinander zu flechten.
    »Warum tragen Sie Ihr Haar so lang?«, fragte er.
    »Ich hätte es schon immer gern lang gehabt«, sagte ich, »aber meine Mutter – ach, was soll’s.«
    »Aber Ihre Mutter was?«
    »Sie hat mir nie erlaubt, mein Haar lang wachsen zu lassen. Ich musste es immer kurz geschnitten und an einer Seite mit einer Satinschleife zusammengebunden tragen. So entsetzlich kindisch!«
    »Aber damals waren Sie doch ein Kind, oder?«, sagte er. »Warum hätte es Sie also stören sollen, dass es kindisch war?«
    Er sagte es in einem beruhigenden, tröstenden Ton, als wollte er damit lediglich die Konversation in Gang halten, um »mich zu schonen«, und ich lag mit

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