Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
Gorian leicht an der Schulter. »Nur du selbst kannst wissen, wozu du imstande bist«, erreichte ihn erneut ihr Gedanke, bevor sie laut erklärte: »Ich muss mich zur heutigen Versammlung der Neulinge unseres Hauses begeben. Aber wir werden uns sicher später sehen.«
Damit ging sie an Gorian vorbei auf den Kathedraleneingang zu. Bei einer Säule, in die Sprüche in alt-nemorischen Schriftzeichen graviert und so zu Ligaturen verschmolzen waren, dass sie nahezu übergangslos in die Säulenornamente übergingen, blieb sie noch einmal stehen, drehte sich um und rief: »Dies ist ein Ort der inneren Versenkung, Torbas – und nicht des immerwährenden Geschwätzes!«
Torbas stieß Gorian an und sagte mit ironischem Unterton: »Sie drückt sich gern kryptisch aus, aber ich fürchte, sie will damit sagen, dass du die Kathedrale in Zukunft etwas geräuschloser betreten sollst.«
»Ich meinte dich , Torbas«, stellte sie klar.
Dann schritt sie weiter auf das Haupttor zu, und lange bevor sie es erreichte, öffneten sich beide Flügel vor ihr. Die Sonne leuchtete herein, und als Sheera das Tor durchschritt, schlossen ihre Strahlen sie vollkommen ein. Selbst der dunkle Fleck des Schattenbringers wurde in diesem Augenblick überstrahlt, sodass er nicht sichtbar war.
Hinter ihr fielen die beiden Torflügel wieder ins Schloss.
»Man sollte eine Heilerin zur Frau nehmen«, meinte Torbas. »Wenn dann die Kinder krank werden, spart man den Lohn für die quacksalbernden Heilkundigen und Ärzte, die überall ihre Dienste anbieten und von ihrer Sache genauso viel verstehen wie ein Feuerschlucker oder ein Hütchenspieler von echter Magie.«
In diesem Augenblick schnellte der Dolch aus Gorians Gürtel, so als wäre er von einer unsichtbaren Hand hervorgezogen worden. Völlig unerwartet und ohne dass Gorian irgendetwas dagegen hätte tun können, schwebte er empor unter das Kuppeldach.
Gorians Hand griff ins Leere, und schon erreichte der Dolch die sternenähnlichen goldenen Lichter in der dunklen Sphäre. Die Klinge begann sich dabei zu verändern und leuchtete in demselben Goldton auf, den auch die schwebenden Lichter ausstrahlten, deren komplizierte Bahnen deutlich vom Dolch beeinflusst wurden.
»Oh«, entfuhr es Torbas. »Hätte ich dir vielleicht sagen sollen: Die glühenden Lichter dort oben bestehen allesamt aus Sternenmetall. Wie übrigens auch das Unendlichkeitszeichen auf dem Altar und jenes am Eingang.«
»Ja, und?«, entfuhr es Gorian.
»Die Schwarzlichtsphäre hingegen ist ein magisches Kraftfeld, das von unserem derzeitigen Hochmeister selbst geschaffen wurde und ständig Kräfte aus der Zwischenwelt der Schattenpfade in unsere Existenzebene fließen lässt. Dadurch wird es gespeist.«
»Und wie kriege ich meinen Dolch zurück?«
»Ich fürchte, das wird nicht ohne eine kleine Kostprobe deines Könnens im Umgang mit der Alten Kraft geschehen. Unglücklicherweise wirkt diese Sphäre wie ein Magnet auf alles, was auch nur eine Unze Sternenmetall enthält. Du wirst es kaum glauben, aber es gibt deswegen immer wieder Ärger mit herausgerissenen Türbeschlägen, und einmal hat es sogar das Unendlichkeitszeichen auf dem Fünfeckaltar gezerrt. Schon damals, im Entscheidungskonvent, äußerte man entsprechende Befürchtungen, als Hochmeister Aberian ankündigte, die Kathedralenkuppel mit dieser Sphäre zu versehen.«
Verdammt, dachte Gorian verärgert. Ganz gleich wie er sich nun verhielt und was er tat oder auch unterließ, er würde Hochmeister Aberian damit verärgern. Schon jetzt waren die goldenen Lichter in der schwarzen Sphäre erkennbar aus ihrer bisherigen Ordnung geraten. Einer Ordnung, die der Hochmeister ihnen irgendwann gegeben haben musste, denn schließlich hatte er die Regeln definiert, nach denen sie ihre Bahnen umeinander zogen oder sich zu Gruppen zusammenfanden. Man hatte zuvor eine Weile gebraucht, um diese Ordnung mit dem Auge zu erfassen, doch nun war selbst bei längerer Betrachtung keine Ordnung mehr zu erkennen.
Und dieser Zustand verschlimmerte sich sogar noch. Der Dolch kreiste um seinen eigenen Schwerpunkt und riss weitere der kleinen goldenen Lichter aus ihrer bisherigen Bahn, und eines davon fiel herab, Gorian direkt vor die Füße.
Nun sah er deutlich, dass es sich um ein Stück glühendes Metall handelte. Mochte es auch aus der Ferne an schimmerndes Gold erinnern, aus der Nähe war sofort klar, dass es sich um ein ganz anderes Material handelte, um Sternenmetall eben.
Gorian
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