Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
Lichtstrahl schoss aus dessen rechter Hand und traf den Dolch. Es zischte, und ein Stöhnen war zu hören, das, auf gespenstische Weise vervielfacht, in der Kathedrale widerhallte. Außerdem versetzte der Laut die in der Schwarzlichtsphäre schwebenden Sternenmetallstücke erneut in Unruhe. Die Kollisionen nahmen zu. Dutzende von Blitzen flammten gleichzeitig auf, während an anderer Stelle viele der golden schimmernden Stücke zu einem größeren, zunehmend heller leuchtenden Körper zusammenklumpten.
Ein zweiter Lichtstahl aus Torbas’ Hand traf den Griff des Dolchs. Der Kopf erstarrte zunächst und bildete sich dann zurück. Allerdings wölbten sich die entsprechenden Formen schon einen Augenblick später wieder hervor.
»Na los!«, schrie Torbas.
Gorian beugte sich nieder und fasste mit der rechten Hand zu, packte den Griff des Rächers, und dieser schien sich seiner Hand anzupassen. Dann zog er den Dolch mit einem Kraftschrei aus dem Boden. Die Klinge leuchtete noch einmal rotgolden auf, ehe die Glut erlosch.
Nein, der Dolch gehörte ihm, und er würde nicht zulassen, dass aus ihm etwas so Scheußliches wurde wie Ar-Don. Seine Hand hielt den Griff so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Muskeln seiner gesamten rechten Körperhälfte waren vollkommen verkrampft, aber Gorian fürchtete einfach zu sehr, dass sich der Dolch aus Sternenmetall ein weiteres Mal selbstständig machte, und das wollte er auf keinen Fall riskieren, auch wenn ihm wohl die Erfahrung fehlte, dies auf rein geistiger Ebene zu bewerkstelligen.
»Das wirst du bald gelernt haben«, sagte Torbas, so als hätte er Gorians Gedanken erraten. Er lehnte an einer der Bänke und schien sehr geschwächt. Offenbar hatte er all seine magischen Kräfte einsetzen müssen, um zu verhindern, dass der Rächer einen eigenen Willen entwickelte, was sonst aufgrund der besonderen Bedingungen in der Kathedrale geschehen wäre. »Ich sag ja immer: Finger weg vom Sternenmetall, wenn man damit nicht umzugehen weiß.«
In diesem Augenblick flogen die Flügel des Haupttors förmlich auseinander, und gleißendes Sonnenlicht fiel herein. Dagegen hoben sich zwei Dinge deutlich ab: Der Schattenbringer und eine Gestalt, von der Gorian zwar keine Einzelheiten zu erkennen vermochte, von der er aber dennoch sofort wusste, um wen es sich handelte, denn die geistige Präsenz des Hochmeisters war unverwechselbar.
»Beim Ersten Meister, was geschieht hier?«, dröhnte Aberians Stimme durch die Kathedrale, aber gleichzeitig vernahm Gorian den Ausruf auch auf höchst unangenehme Weise in seinen Gedanken.
Er schluckte, wollte etwas sagen, doch ein dicker Kloß saß ihm im Hals.
Aus der Schwarzlichtsphäre schoss ein Brocken Sternenmetall hernieder. Keine noch so schwache Ahnung warnte Gorian, was vielleicht daran lag, dass keinerlei Absicht hinter dem Angriff lag, sondern nur das zufällige Zusammenwirken verschiedener Kräfte, die letztlich zu chaotisch waren, um sie voraussehen zu können.
Gorian spürte einen furchtbaren Schmerz. Dann umgab ihn nur noch Dunkelheit.
16
Erwachen
Dunkelheit.
Und dann ein Licht.
Genau so hatte der Priester Pasoch in der Schule von Twixlum den Übergang vom Leben zum Tod beschrieben.
Aber statt dass sich ihm nun das Geheimnis des Verborgenen Gottes offenbarte, wie Pasoch es in blumigen, aber dennoch nur sehr vagen Worten immer wieder geschildert hatte, begann dieses Licht zu flackern, und Gorian begriff, dass es sich um die Flamme einer Kerze handelte.
»Du erwachst!«
Dieser Gedanke war so klar und deutlich, dass er nicht einen einzigen Moment an seinem Wahrheitsgehalt gezweifelt hätte. Aber es war der Gedanke eines fremden Geistes.
Sheera!
Er öffnete die Augen. In dem Raum, in dem er sich befand, herrschte Halbdunkel. Von dem Lager aus, auf das er gebettet war, blickte er auf einen Kerzenhalter, der an der Wand befestigt war. Der flackernde Schein fiel auf Sheeras ebenmäßige Gesichtszüge und ließ sie sehr weich erscheinen. Ihre Augen leuchteten grün, in einer Farbnuance, die Gorian an das Meer in der Thisilischen Bucht erinnerte.
Er wollte sich erheben, doch es ging nicht, er wurde niedergedrückt und bemerkte dann faustgroße dunkle Steine, die auf seinen Schultern und auf seiner Brust lagen. Von ihnen ging eine geradezu unheimliche Kraft aus, und ihr Gewicht überstieg jenes Maß, das man angesichts ihrer Größe erwarten konnte.
»Vorsicht«, mahnte Sheera. »Die Heilsteine
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