Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
längst viel zu kalt in Orxanien. Und ich wüsste auch keinen Orxanier, der mit Tauben mehr anzufangen wüsste, als sie zu verspeisen. Wenn man Botschaften überbringen will, kann man schließlich laufen …«
»Aber nicht übers Wasser.«
»… oder rudern!«
»Ist das wirklich die Flagge deines Clans?«, fragte Gorian an Gaerth gerichtet.
Der Orxanier nickte und hielt die linke Pranke hoch. »Eine orxanische Hand, der ein Finger fehlt – das ist das Zeichen unseres Clans, weil unser Ahnherr diesen Finger verlor, als er bei einer Mutprobe einen lebendigen Eisfrosch zu verschlingen versuchte.«
»Der Frosch hat sich gewehrt?«
»Offenbar«, lachte Beliak. »Und ich habe dafür auch vollstes Verständnis.«
»Ja, aber das verlängerte sein Leben nur um wenige Herzschläge«, sagte Gaerth. »Dann verschlang ihn mein Ahnherr mit einem Happen – und mitsamt seinem eigenen Finger.«
»Ihr Orxanier habt schon eigenartige Manieren«, spottete der Adh.
»Mein Ahnherr verhinderte dadurch einen Krieg, weil diese Mutprobe eine Landstreitigkeit regelte. Und jemanden, der seinen eigenen Finger isst, den greift niemand an, denn man traut ihm jede Grausamkeit zu, auch wenn er in Wahrheit doch eher friedfertig war, mein Ahnherr.«
Immer mehr orxanische Ruderschiffe tauchten aus dem Dunst auf. Heisere Stimmen stießen Laute aus, die an das tiefe Bellen großer Hunde erinnerten. Damit wurde offenbar der Rhythmus angegeben, in dem gerudert wurde.
Gaerth wandte sich an Gorian. »Ich habe keine Ahnung, was die hier wollen. Eigentlich hatte ich gedacht, unser Clan wäre von Morygors Horden vernichtet worden.«
»Genau das ist wohl geschehen«, befürchtete Gorian. »Und deine Verwandten sind gekommen, um uns im Auftrag des Frostherrn zu töten!«
Und tatsächlich – je näher die Schiffe der Orxanier kamen, desto deutlicher wurde, dass es sich nicht um gewöhnliche Angehörige dieses Volkes handelte.
Es waren Untote.
Frostkrieger – gefallen im Kampf gegen Morygors Horden und durch Magie zu einem neuen, eisigen Leben erweckt. Willenlose Mördersklaven im Dienste des Frostherrn. Der Zauber, der sie zu Untoten gemacht hat, war ein anderer als jener, durch den Schwertmeister des Ordens zu Schattenreitern wurden, aber ebenso wirksam. Ein beträchtlicher Teil von Morygors Truppen bestand aus diesen Kreaturen – mit Vorliebe aus ehemaligen Orxaniern, da sich ihre Kraft auch in ihrer untoten Existenz erhielt. Wer schon im Leben robust war, der war auch als Frostkrieger härter als andere. Es gab aber auch Erzählungen über Eiskrieger, die ursprünglich Menschen oder Adhe gewesen waren – und ganz selten sogar goldäugige, spitzohrige Caladran von den Inseln im Westen.
Die Haut der Frostkrieger war grünlich und ähnelte verwesendem Fleisch, doch der Frostzauber verhinderte, dass sich ihre Leiber zersetzten, und hielt sie aufrecht. Sie waren durch und durch gefroren, und das Eis ließ sie selbst in dem schwachen, dunstigen Licht dieses grauen Tages schimmern und glitzern wie die Waren auf den Fischmärkten von Thisia.
Gorian hatte seinen Vater bisweilen von den Frostkriegern erzählen hören. Manches davon entstammte wiederum den Erzählungen von Großvater Erian, der lange und ausdauernd gegen sie gekämpft hatte.
Der magische Schutz, mit dem Nhorich sein Land umgeben hatte und der vor kurzem erst durch das Erneuern der Kraftzeichen wieder gestärkt worden war, würde gegen diese Untoten nichts nützen, denn ebenso wie bei den Schattenkriegern oder Ar-Don gab es unzweifelhaft eine sehr starke Verbindung zwischen ihnen und diesem Ort.
Und diese Verbindung hieß Gaerth.
Der Orxanier wirkte völlig konsterniert, als er die lebenden Toten seines Clans nahen sah. »Grexan! Tegret! Belpaan!« Er sprach fassungslos ihre Namen, erkannte offenbar jeden Einzelnen von ihnen wieder.
Und doch musste ihm klar sein, dass diese gefrorenen Kreaturen auch innerlich so kalt waren wie ihr Äußeres und marionettenhaft den Willen eines anderen ausführten. Sie würden niemanden schonen – auch einen Verwandten nicht, denn mit den Mitgliedern des Clans des vierfingrigen Froschessers hatten diese Geschöpfe kaum mehr als die Gesichtszüge gemein.
»Die Frostgötter sorgen offenbar mit ihrem eisigen Hauch dafür, dass diese Gestalten nicht zu Haufen von stinkendem Fleisch zerfallen«, murmelte Gaerth, dann verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse des inneren Schmerzes und der Wut. Erneut troff Speichel von seinen Hauern, als er einen
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