Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
Gorian.
»Sie können nämlich ins Untererdreich eindringen und dort sehr viel länger existieren als die meisten anderen Wesen, von uns Adhen mal abgesehen.«
»Dann war das Biest, von dem dies hier stammt, vielleicht dem magischen Drang erlegen, der alles in die Tiefe ziehen will, und ist jetzt irgendwo unter unseren Füßen ohne die Möglichkeit einer Rückkehr.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, murmelte Beliak. »Wir sollten uns nicht mehr zu weit vom Tempel entfernen …«
Eisiger Wind kam auf, so feucht und kalt, dass er die Blätter der umliegenden Bäume mit einer feinen glitzernden Schicht überzog, wodurch sie so schwer wurden, dass einige von ihnen hinabfielen. Auch Äste wurden nach und nach von einer Eisschicht eingehüllt und brachen.
Schon zuvor war Beliak aufgefallen, dass es in einem gewissen Umkreis des Tempels keinerlei Tiere gab, aber das hatte er zunächst den besonderen magischen Eigenschaften dieses Ortes zugeschrieben. Nun war er sich da nicht mehr so sicher. »Könnte sein, dass Frogyrr selbst sich hierherbegibt«, sagte er düster. »Schließlich geht es nicht nur um deine Existenz, sondern auch um die des Frostgottes. Denn ich glaube kaum, dass Morygor es ihm so ohne Weiteres verzeihen würde, sollte er mit leeren Pranken in die Frostfeste zurückkehren. Wahrscheinlich wäre für ihn selbst ein Leben unter der Sonne Eldosiens noch angenehmer.«
Etwas später setzte Schneefall ein, und innerhalb kurzer Zeit war das Gebiet um den Tempel zu einer weißen Winterlandschaft geworden. Nur der Tempel selbst, die Lichtung und die ersten Baumreihen des Waldes blieben davon unberührt. Und wenn Gorian in den grau gewordenen Himmel blickte, durch den seltsamerweise nur noch der dunkle Schattenbringer deutlich zu erkennen war, während die Sonne als verwaschener und erschreckend fahler Lichtfleck erschien, konnte er sehen, wie eine unheimliche Kraft die Schneeflocken ablenkte, so als wäre über diesen Bereich ein unsichtbarer Schirm gespannt.
Weit über dieser unsichtbaren Glocke tauchten wieder Eiskrähen auf, aber diesmal wagten sie keinen Sturzflug in die Tiefe, sondern blieben hoch oben, selbst für den Rächer unerreichbar, hätte Gorian ihn geschleudert.
Sie kreisten über dem Tempel, und mit der Zeit versammelten sich dort immer mehr von ihnen. Ihr Krächzen vermischte sich zu einem schaurigen Singsang, bei dem Gorian fast den Eindruck hatte, sie würden damit jemanden rufen.
»Also, sollte dir noch irgendetwas einfallen – etwas, was du mal in den alten Büchern gelesen hast, aus denen du deine Nase nicht herausnehmen konntest -, dann solltest du es jetzt äußern«, meinte Beliak. »Irgendetwas, was wir noch tun können, bevor der achtbeinige Eisbär hier auftaucht.«
Sie standen beide vor dem Säulenportal des Tempels, auf das noch keine einzige Schneeflocke gefallen war.
Als Gorian keine Antwort gab, setzte Beliak hinzu: »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die Magie dieses Ortes zu vertrauen.«
»Du könntest noch fliehen«, meinte Gorian und sah den Adh an. »Gib einfach dem magischen Sog nach, lass dich in die Tiefe ziehen …«
»Um dann wer weiß wie weit durch das Untererdreich wandern zu müssen, um irgendwo wieder auftauchen zu können?«, fragte Beliak. »Falls das überhaupt möglich ist, denn der Zauber, der hier wirkt, könnte einen wie mich auch direkt ins Tiefen-Untererdreich ziehen, wo ich verglühen würde, oder mich für immer hier unter den Tempelfundamenten festhalten.« Er wog die Axt in seinen Händen. Er hatte ihre Schneide an den Tempelstufen geschliffen, auf eine Weise, die Gorian alles andere als fachkundig erschien, die aber dennoch ihren Zweck erfüllt hatte: Sie war so scharf wie nie. »Nein, ich lasse dich nicht im Stich«, versprach der Adh, »was auch immer geschehen mag. Und das tue ich nicht nur aus Freundschaft, wie du vielleicht glaubst.«
»Warum denn noch?«
»Solange du lebst, besteht für mich die Hoffnung, dass Morygors Herrschaft eines Tages doch noch sein Ende findet. Vielleicht nur eine unbestimmte Hoffnung – aber das ist besser als nichts, wie ich finde.«
Dumpfe Kriegsrufe in orxanischer Sprache ließen ihn verstummen. Hier und dort erschienen die ersten orxanischen Toten. Doch die letzten Baumreihen, die nicht vom Schnee bedeckt, sondern nur von einer Eisschicht überzogen waren, konnten sie nicht durchschreiten. Eine unsichtbare Wand machte jedes weitere Vorwärtskommen unmöglich.
Sie schrien vor
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