Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
befand.
Der Baum war inzwischen völlig vereist, und mindestens dreihundert Eiskrähen hatten sich auf seinen Ästen niedergelassen. Die Grenze des durch Magie geschützten Bereichs verlief ungefähr auf halbem Weg zwischen dem Baum und der Rückfront des Tempels.
Das bedeutete, dass sich Ar-Dons Grab in Frogyrrs Einflussbereich befand, ging es Gorian durch den Sinn. Wahrscheinlich war es nun ohnehin nicht mehr möglich, den Bann, denn Nhorich über den Gargoyle gelegt hatte, von ihm zu nehmen.
Verwunderlich war, dass Ar-Don offenbar keinerlei Hilfsappelle an die Schergen seines Herrn richtete. Zumindest bekam Gorian davon nichts mit. Warum ließ er nicht den Bann von Morygors Dienern auflösen? Und wäre es nicht sogar eine Gelegenheit für ihn, jenen Mordauftrag, an dem er vor sechs Jahren gescheitert war, doch noch auszuführen? Frogyrr war mit Sicherheit in der Lage, den Bann zu lösen – und für Ar-Don ergab sich dadurch vielleicht sogar die Möglichkeit, das Wohlwollen seines Herrn und Meisters in der fernen Frostfeste zurückzugewinnen.
Aber nichts von alledem schien in Ar-Dons Absicht zu liegen.
Was Gorian allerdings am meisten verwunderte, war, dass Ar-Don vollkommen stumm blieb. Kein höhnischer, vor Zynismus triefender Gedanke, keine drohenden Bildvisionen, kein Versuch, ihn zu schwächen oder noch einmal umzustimmen. Nichts!
Ar-Don hätte sich wieder auf die Seite des Frostreichs stellen können, und doch tat er es nicht. War er – und besonders jener Teil in ihm, der zu Meister Domrichs Seele gehört hatte – tatsächlich nicht mehr jener willenlose Sklave Morygors, der er einst gewesen war? Verbarg er sich – und zwar ganz bewusst – vor den Schergen des Frostherrn?
Für einen Moment erschien Gorian das, was ihm Ar-Dons Gedankenstimme die ganze Zeit über einzuflüstern versucht hatte, doch auf gewisse Weise plausibel. Die Seelenreste von Meister Domrich schienen sich stärker durchzusetzen, als Gorian es bisher für möglich gehalten hätte.
Vielleicht habe ich mich geirrt, Ar-Don!, dachte Gorian.
Doch dieses Mal erhielt er keine Antwort auf seine Gedanken.
11
Kämpfe
In den nächsten Stunden geschah nichts. Gorian und Beliak wachten zwischen den Säulen des Tempelportals und beobachteten, was sich bei ihren Feinden tat. Frogyrr unternahm keinen Versuch mehr, die magische Wand zu vernichten. Er hatte wohl schon zu viel Kraft bei den ersten beiden Malen verbraucht und wollte sich nicht vollends verausgaben, zumal er die Zeit auf seiner Seite wusste. Denn Gorian und Beliak konnten dieser Belagerung nicht endlos standhalten, selbst dann nicht, wenn die magische Barriere weiterhin undurchlässig blieb.
Immerhin bildeten sich die Risse im Mauerwerk langsam zurück.
»Die da drüben setzen wohl darauf, dass es uns früher oder später zu kalt wird«, äußerte Beliak mit der gewohnten Leichtigkeit, die ihm eigen war, die aber im Moment nur aufgesetzt wirkte. In Wirklichkeit war der Adh wohl ganz und gar nicht mehr so zuversichtlich, dass die Geschichte noch ein gutes Ende für sie beide nahm.
»Es scheint darauf hinauszulaufen, wen früher die Kräfte verlassen, uns oder Frogyrr«, war Gorian überzeugt. »Im Moment würdest du da wohl nicht für unsere Seite wetten, was?«
»Ich meine nur, es wäre nicht schlecht, wenn du noch irgendetwas an Magie auf Lager hättest, das unsere Gegner schwächen könnte«, antwortete Beliak. »Na, fällt dir nichts ein? Ah, ein Magiemeister des Ordens müsste man jetzt sein. Oder zumindest so viel davon verstehen, wie dein Vater es tat.«
Ein durchdringendes Fauchen ließ sie beide aufhorchen.
»Was war das?«, fragte Gorian.
Das Gesicht des Adh veränderte sich, und Gorian sah, dass Beliak der Schrecken durch alle Glieder fuhr. »Das ist ein Laut, der oft genug in strophenweiser Ausführlichkeit in den Liedern der Adhe geschildert wird«, murmelte er. »Der Rhythmus dieser Schritte, der aasige Geruch des Atemhauchs …«
»Wovon sprichst du?«
»Von einem Langzahnlöwen.«
Im nächsten Moment sahen sie, wie zwei Dutzend Orxanier eine solche Bestie an Ketten heranführten. Das Biest war höher als jedes Pferd und vom Kopf bis zum Schwanz mindestens viermal so lang. Die Schulterpartie war im Verhältnis zu anderen katzenartigen Geschöpfen viel breiter, und es gab eine Sage, nach der einst ein Herzog von Thisilien verfügt hatte, Stadttore so zu bauen, dass zwar ein großes Gespann, nicht aber ein hungriger Langzahnlöwe hindurchpasste.
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