Gorian 2
zu beurteilen. Sosehr er mit den Mitteln seines inzwischen schon sehr gut ausgebildeten Geistes um sich tastete, er fand nichts mehr.
»Was beunruhigt dich?«, erreichte ihn stattdessen ein Gedanke von Sheera.
Er spürte erst jetzt ihre körperliche Anwesenheit, was nur daran liegen konnte, dass er sich sehr stark auf den Schatten konzentriert hatte. Er drehte sich herum.
Sheera setzte sich zu ihm. »Manchmal hat es keinen Sinn, sich sammeln zu wollen«, sagte sie.
»Für einen Moment habe ich gedacht, da wäre ein Magie-Schatten, dort draußen auf dem Meer. Aber ich scheine mich getäuscht zu haben.«
»Mir ist das auch schon passiert«, erklärte Sheera. »Der Schattenbringer spiegelt sich manchmal im Wasser. Und diese Spiegelungen haben sogar noch etwas magische Kraft. Zumindest genug, um sie spüren zu können wie einen bösen Gedanken.«
Er sah sie an, und der Blick ihrer meergrünen Augen offenbarte ihm, dass sie sehr genau erkannt hatte, was wirklich mit ihm los war und was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.
»Mir gegenüber kannst du offen sprechen«, sagte sie. Sie brauchte nicht einmal genauer zu präzisieren, was genau sie damit meinte.
»Ich bin unzufrieden«, erklärte er. »Seit wir das Frostreich verlassen haben, ist kaum noch etwas, wie es war. Ich habe all meine Kraft in dem Kampf am Speerstein aufgebracht, weil ich geglaubt hatte, es wäre Morygor, dem ich gegenüberstand, und die Stunde der entscheidenden Begegnung zwischen uns wäre gekommen. In Wirklichkeit hatte Morygor nur einen Schergen geschickt.«
»Du hast einen Frostgott besiegt und die beiden Schwerter, die dein Vater schmiedete, zurückgeholt«, gab Sheera zu bedenken.
»Ich habe nur gegen einen Diener Morygors gekämpft und wäre beinahe dabei umgekommen. Vermutlich war genau das Morygors Ziel.«
»Aber es ist nicht so gekommen, wie er es plante. Du lebst und bist wieder zu Kräften gekommen.«
»Ja, aber zu einem hohen Preis. Bevor ich am Speerstein kämpfte, hatte ich keine Zweifel daran, Morygor besiegen zu können. Dass meine Kraft nicht ausreichen könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen.«
»Und jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Du hast deine Grenzen kennengelernt und bist vielleicht sogar darüber hinausgegangen. Das ist nichts, was dich innerlich niederdrücken, sondern ermutigen sollte. Immerhin haben sich deine Kräfte als stärker erwiesen als die aller anderen, die dich begleitet haben. Und das gilt sogar für Meister Thondaril.«
»Ja, ich weiß.«
»Was ist mit deiner Wunde?«
»Sie hat aufgehört zu bluten. Deine Heilerde hat geholfen.«
»Ich habe leider nicht mehr viel davon, und hier in Gryphenklau ist sie schwer zu bekommen. Aber ich habe Meister Aarad gefragt, und er meinte, dass er einen Weg finden wird, welche zu besorgen.«
Sie schwiegen eine Weile und beobachteten einen Beinahezusammenstoß von zwei völlig überladenen Greifengondeln. Einer der Greifen, ein wahrer Riese seiner Art, stieß ein wütendes Fauchen aus, und sein Reiter hatte alle Mühe, die gewaltige Kreatur zu bändigen. Unglücklicherweise war die Gondel offen und die Ladung nachlässig befestigt. Ein halbes Dutzend große Stoffballen fielen in die Tiefe und landeten in jenem nicht immer wohlriechenden Graben, in dem die Abwässer des Hafens und der Hauptstadt zusammenflossen, um dann ins Meer geleitet zu werden.
»Im Moment verläuft nichts so, wie es sein sollte«, meinte Gorian irgendwann. »Ich habe das Gefühl, hier seit Monaten nur nutzlos herumzusitzen.«
»Du musstest deine Kraft zurückgewinnen. Wahrscheinlich mussten wir das alle.«
»Morygor lässt uns diese Zeit nicht«, widersprach Gorian. »Nicht mal meine Ausbildung konnte ich richtig fortsetzen, weil sich in der Gesandtschaft hier in Gryphenklau kein ausbildungsberechtigter Seher oder Schattenmeister befindet.«
Sheera lächelte. »Vielleicht war dein Plan, dich in allen fünf Häusern des Ordens gleichzeitig ausbilden zu lassen, ohnehin ein bisschen zu ehrgeizig.«
Er sah sie sehr ernst an. »Das ist kein übertriebener Ehrgeiz, sondern reine Notwendigkeit, wenn ich gegen Morygor bestehen will. Sieh doch unsere jetzige Lage. Wenn
sich mein Schattenmeister-Lehrer Aberian nicht als Verräter entpuppt hätte und ich in der Ausbildung weiter wäre, könnte ich mich jetzt einfach über einen Schattenpfad innerhalb von Augenblicken auf die Inseln der Caladran oder nach Felsenburg begeben. Stattdessen sitzen wir hier und warten darauf, dass ein gnädiger
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