Gorian 3
Maß.
Mitten auf der staubbedeckten Ebene, die zuvor die Grundfläche des Stadtbaums gebildet hatte, lag eine Kugel aus glühendem Gestein. Der Geruch von Schwefel wehte zu Gorian und Sheera hinüber.
Hoch am Himmel schwebten noch immer die Himmelsschiffe, die sich aus dem vereisten Hafen von Caladrania erhoben hatten. Vielleicht um der Staubwolke zu entgehen, waren sie noch höher in den dämmrigen Himmel gestiegen. Im Hintergrund leuchteten die Sterne und die Sichel der Sonne, von der Gorian meinte, dass sie noch schmaler als zuvor war.
Die Wandler waren entweder erschlagen worden oder in die Eiswüste der Umgebung geflohen. Bei einem der benachbarten Hänge sah man noch ein paar von ihnen, die zu entkommen versuchten. Einige der Maladran zogen Schattenpfeile aus ihren Köchern und schossen auf sie. Die Schreie der getroffenen Metamorphen vermischten sich mit dem Heulen des eisigen Windes, der über die noch aus dem Eis ragenden Gipfel der Berge von Mittel-Caladrania pfiff.
Eldamir steckte sein Schwert ein und näherte sich Gorian.
»Ihr müsst sehr mächtige Verbündete haben«, sagte er in einem Ton, der fast schon ehrfurchtsvoll klang. »Wahrhaftig, man sieht es Euch nicht an, dass Ihr offenbar Götter oder das Schicksal selbst auf Eurer Seite habt, aber so muss es wohl sein.«
Gorian gab darauf keine Antwort.
Stattdessen sah er hinüber zu der Kugel aus glühendem Gestein.
Gestein, das voller Sternenerz sein musste. Er spürte es genau. Es war voller Magie und Seelenkraft …
»Vorsicht, Gorian!«, riet Sheera.
»Bleibt alle ein wenig zurück!«, forderte Gorian laut und auf eine Weise, dass ihm niemand widersprach.
Selbst Beliak hielt sich an diese Anweisung …
Gorian durchschritt den etwa kreisförmigen Bereich, der die Grundfläche des Stadtbaums dargestellt hatte, bis er gut die Hälfte der Strecke bis zum Stein hinter sich gebracht hatte. Sheera, Beliak und die Maladran folgten ihm zwar, hielten aber einen Abstand von gut einem Dutzend Schritten ein, so wie er es ihnen befohlen hatte.
Die Kugel überstieg von der Größe her ein drei- oder vierstöckiges Lagerhaus, wie sie in Embador standen, und war tatsächlich exakt in der Mitte des Platzes aufgekommen. Nur mit Magie erzielte man ein derart hohes Maß an Präzision.
»Ich bin es!«, meldete sich die bekannte Gedankenstimme bei Gorian wieder, die er eben schon vernommen hatte.
»Wirklich? Immer noch?«, sandte Gorian zurück, doch er erhielt zunächst keine Antwort. Stattdessen leuchtete der Stein noch etwas heller auf, sodass Gorian die Augen mit der Hand sowie mit einer abschirmenden Formel schützen musste.
Im Inneren dieses Gebildes brodelte und zischte es. Rauch stieg auf, und der Schwefelgeruch wurde stärker. Hier und dort schossen Flammen empor. Manche waren so rot wie glühende Kohlen, andere leuchteten giftgrün oder hellblau; Letztere erinnerten Gorian unwillkürlich an die Färbung des Himmels über ihm, als er damals im Boot seines Vaters als kleiner Junge erwacht war und sein bewusstes Leben begonnen hatte.
»Ich kenne deine Seele fast so gut wie du die meine«, wisperte die Gedankenstimme.
»Bist du noch der Gargoyle Ar-Don, der hinauf zum Schattenbringer geflogen ist?«
»Bist du noch derjenige, der immer wieder an den blauen Himmel über einem Boot in der Bucht von Thisilien denkt?«
»Es gibt diesen blauen Himmel nirgendwo mehr auf ganz Erdenrund. «
»Ich habe einen weiten Weg hinter mir. Und du auch. Zeit ist vergangen, Schicksale haben sich ereignet und wurden neu vorherbestimmt. Aber niemand hat je einen weiteren Weg zurückgelegt als ich. Vielleicht kann ich wieder werden, was ich war. Vielleicht auch nicht.«
Die Glut des Steins erlosch innerhalb weniger Augenblicke. Nichts weiter als ein kaltes, riesiges Stück Sternenerz lag danach vor Gorian.
Dann zerfielen die äußeren Schichten der von pockennarbigen Vertiefungen übersäten Gesteinskugel zu Staub, so wie zuvor der Stadtbaum. Die feste Form löste sich auf, und der Wind nahm den feinen Staub mit sich.
Zwischenzeitlich schälten sich die Umrisse eines Greifen daraus hervor, der die gefiederten Flügel von seinem löwenartigen Körper spreizte und den falkenhaften Kopf hob. Doch auch diese Gestalt zerfiel und wurde zu einem steinernen Drachen mit fledermausähnlichen Schwingen, nicht größer als eine Katze.
»Ar-Don ist wieder mein Name«, vernahm Gorian erneut die Gedankenstimme. »Aber ich bin auch andere geworden.«
»Meister Domrich!«,
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