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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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eine Serviette falten, über das Tuch streichen, Hände falten, kneten, Serviette auseinanderfalten, über das Tuch streichen. Mein Cousin machte einen Witz, wir lachten, ich auch, aber ich schielte immer wieder zu Papa hinüber, zu seinen Händen, schielte, ob sein Gesicht wieder im Lichtkegel auftauchen würde, wollte es lesen oder so. Auf den Witz meines Cousins folgten ein paar andere Witzchen verschiedener Familienmitglieder, das ist leider auch immer so bei uns. Und da sah ich, wie Papa auf einmal aus dem Dunklen auftauchte, sich vorbeugte und zu uns herübersah. Es sah aus, als schaute er von unten auf, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, mit den Händen sich an der Tischkante haltend, die Augen angestrengt, sehnsüchtig, den Mund so beherrscht zusammengepresst, als sei er innen eingerissen und der Schmerz unterdrückt. Die Augen flackerten irgendwie und lagen in tiefen Höhlen, und die ganze Haltung schien bereit, sich zu ducken, oder war schon geduckt. Der Krebsblick. Den hatte ich noch nicht gekannt bis dahin. Ich wusste da auch noch nicht, dass er noch entsetzlicher und deutlicher werden konnte. Papa neigte sich zu meinem Onkel hinüber, sagte was. Ich sah wieder in die Runde an meinem Tischende, wollte nicht, dass alle meinen Blick merkten und auch anfingen, Papa anzuglotzen. Als ich wieder rüberschielte, war Papa schon aufgestanden, verschwand ganz im Dunkeln, öffnete die Kneipentür. Die fiel leise gebremst auf den Schwamm, der vor das Schloss gebunden war. Mein und meines Onkels Blicke trafen sich ängstlich und unsicher. «Lass mich ma durch», sagte ich zu Johannes und schob meinen Fuß neben seine Hand auf der Bank, stützte mich an seiner Schulter ab, er neigte den Oberkörper nach vorn und ließ mich drübersteigen. Der Tisch wurde stiller. Meine Mutter sagte was. Ich drückte den fettigen Kunstledertürgriff auf, ein dicker gewachster Vorhang, durch. Raus. Und eiskalte Luft fror mir in der Nase. Schnee klebte am Boden, wie Eis in Gefrierfächern. Es war kurz vor Silvester. An der Hauswand, an der unbeschienenen Straßenecke – mein Vater. Ohne Rat. Mein Vater in Todesangst, der auf den Boden starrte und sich wahrscheinlich zu beherrschen versuchte, indem er sich mit der rechten Hand durchs Haar fuhr, Luft durch die Zähne einsog, den Kopf plötzlich in den Nacken legte und nach oben schaute. Dabei bemerkte er mich.
    Ich ging zu ihm und schob meine Hand in seine, ich kam mir so bescheuert vor in meinem Mitleid und angesichts seiner Hilflosigkeit. «Papa», sagte ich leise.
    Er drückte kurz mit Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Augen und seufzte. Dann legte er mir die Hand unter das Kinn mit den Fingerspitzen an meiner Wange.
    «Ach», stieß er aus, und seine Stimme war ein bisschen gebrochen. «Ach, Estherle, es ist nur so – ich hab mich so gefreut an euch Jungen – ich konnt – ich konnt nicht – ach, es ist einfach eine Riesenscheiße.»
    Er drückte mich fester an sich. Er beherrschte sich so, und diese Anspannung, diese Kraft, die er dazu brauchte, die spürte ich in der Weise, wie er mich an sich zog. «Mhm», machte ich leise. Ich drückte seine Hand. Und dann entspannte er sich ein wenig. «Hast dich erschrocken, Estherle? Musste nicht, mein Mädchen», und küsste meinen Kopf.
    Wir standen da in der Kälte einfach noch etwas betreten rum. Papa sah nach oben in den Himmel. «Der Mond ist so seltsam heute», sagte er. Und das stimmte. Er hatte einen riesigen, ovalen, weißen Schein um sich. «Mhm», machte ich, und wir schwiegen wieder, weil der Mond uns nichts sagte. Der war nur schön. Heute besonders schön. Ein Kitsch gegen das, was wir Kinder tatsächlich erlebt hatten, worauf unsere Hoffnung ruhte, worauf unsere Seelen vertrauensvoll die Augen schlossen und leise «danke» murmelten, bis sie tief und gleichmäßig atmeten.
    «Lieber Gott», dachte ich, wie einen Gruß. Aber ich spürte das Ausgesetzte von meinem Vater neben mir, ich hielt seine Hand und wollte ihm etwas abgeben von dem, was ich glaubte, wusste. Und da spürte ich zum ersten Mal diese Nervosität, die ich bis heute kenne. Diesen Gedanken: Der muss beten. Das bringt hier alles nichts. Der muss beten, das ist das Einzige. Der soll zu seinem Gott sprechen. Und zwar schnell. Wie krieg ich das hin? Ich kann doch nicht zu Papa sagen: «Bete, mein Bruder im Herrn, dann wird dir geholfen.»
    «Ich hab dich lieb, Papa», mehr brachte ich nicht heraus.
    «Und ich dich.»
    Wir gingen wieder

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