Gott Braucht Dich Nicht
und Ab, von Nachrichten über Fortschritte und hochschießende Krebs-Werte. Das Gebet war zu dem einen Satz geworden, den jeder für sich manchmal ausstieß: «Bitte mach Papa gesund.» Dabei wusste ich nur noch, dass dieses Gebet eine Richtung kennt, dass ich eine Hoffnung hatte, auch wenn ich sie nicht immer merkte. Wenn sich eine Krankheit so lange hinzieht, zwischendurch so erschreckend akut wird, dann wieder vor sich hin döst oder schleicht, dann fühlt sich das Gebet irgendwann so an wie «Unser täglich Brot gib uns heute». Wir hatten Brot, wir hatten Schweinebraten und Süßigkeiten, und Papa hatte anderthalb Jahre überlebt. Die alte Diagnose vom Arzt schien zwischendurch vollkommen übertrieben. Ich konnte die Krankheit nicht jeden Tag so ernst nehmen, um jeden Tag um sein Leben zu flehen. So ging es uns allen. Und wenn es Papa gerade gutging, kam man sich hysterisch vor und dramatisierend, wenn man darum bat, dass er überlebt.
Soll man sich in Panikstimmung versetzen, damit man wahrhaftiger beten kann? Ich tat es nicht. Ich reagierte nur auf die schlimmen Nachrichten mit Gebeten. Aber ich konnte mich selbst nicht mehr den Satz sagen hören: «Bitte mach ihn gesund.» Ich konnt’s einfach nicht mehr hören. Und so betrunken, wie ich an jenem Morgen durch das Haus torkelte, wie ich es hasste, alles schnell aufzuräumen, nicht mehr pubertierend denken zu können, «is ja wurscht, dann rasten die Alten halt aus», so genervt und gereizt, wie ich an jenem Morgen war, so sprach ich dann auch kurz mit Gott, als ich auf Knien die Bierpfützen wegwischte: «Mach ihn endlich gesund. Mach endlich was. Wir haben kapiert, wie wertvoll das Leben ist. Wir haben’s doch verstanden. Wir lieben uns alle, was willste denn noch?»
Ich wrang den Lappen über dem Eimer aus, klatschte ihn wieder vor mir auf die Fliesen und merkte: «Nee. Das geht nicht. Verzeih mir, Gott. Ich bin nur müde. Bitte mach Papa gesund. Bitte. Ich bin nur müde. Ich glaub dir. Wir warten auf dich.»
Ich räumte die Alkflaschen in Tüten und schickte die Besoffenen nach Hause. Sie verabschiedeten sich, machten noch ein paar Witze über die Nacht, «Schöne Grüße an die Fische in eurem Teich», verschwanden, und ich richtete das Haus wieder her. Damit drin gelitten und gezittert werden konnte. Damit endlich dieses Wunder geschehen konnte, auf das wir alle warteten.
10
Wir sprachen nicht. Der Teppichboden des Flures dämpfte die Schritte und Geräusche. Steffi und ich gingen nebeneinander an diesen riesigen weißen Türen vorbei, die für die schweren Krankenhausbetten extra breit waren. Da war der Lift. Und als Steffi den Knopf drückte und wir warteten, lächelte sie mich an und sagte leise und lieb: «Na?»
Ich sagte nichts. Lächelte zurück. Wir sahen mittlerweile anders aus. Müder. Ernster. Vor allem Mama. Und Johannes, der Jüngste von uns, der sah manchmal aus, als läge ein alter schwarzer See hinter seinen Augen, von dem man nicht wusste, wo der war, gemeinsam gespielt hatten wir dort jedenfalls nie. Manchmal flackerte in mir darüber ungeduldiger Zorn auf. Gegen Gott. Dass mein Bruder so still wurde. Dass ich nicht mehr wusste, wie es ihm ging, obwohl er mir so nah war.
Papa hatte eine neue Therapie in einem Krankenhaus begonnen, zu der er stationär aufgenommen worden war. Blumen auf dem schweren Rollwagen neben dem Bett, sein Aftershave neben dem Desinfektionsspender, und hinter dem Fenster riesengroße, blutrote Sonnenuntergänge, die im orangefarbenen Leuchten die breiten Wolkenstreifen schwarz werden ließen.
Mama blieb bei ihm und bekam ein Zimmer neben seinem. Das Krankenhaus lag weit weg von zu Hause, und Papa ging es immer schlechter.
Mein Bruder und ich mussten auf ein Internat in der Nähe. Meine Schwester blieb allein zu Hause, weil sie mitten im Abi steckte. Johannes und ich beteten ganz selten miteinander. Irgendwo auf dem Internat, in einer Ecke auf dem Gang oder in meinem Zimmer.
Als der Vater von einer Internatsfreundin an Krebs starb, kamen wir gerade aus den Besinnungstagen in einem Schweigekloster, in dem wir weder geschwiegen noch uns besonnen hatten. Diese Freundin und ich kauften uns eine Wodkaflasche und setzten uns in den Schnee bei einem Wasserfall. Dort sprach sie ganz ruhig vom Tod ihres Vaters. Sie erzählte und erzählte, und ich schluckte zu jedem Satz den Wodka und tätschelte ihr wie eine Irre in der Geschwindigkeit meiner rasenden Angst die Hand. Das war aber nicht schlimm. Sie war ja
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