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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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rein.

8
    «Scheiße.» Ich sitze am Tisch in der Stube von Omas Haus. Meine kleine Cousine sitzt mir gegenüber, zwischen uns ein Backgammon-Brett, ich habe den ersten Zug gemacht, die dicken weißen Holztaler verschoben, jetzt ist sie dran. Sie würfelt, sie überlegt, und in den Sekunden, da sie ruhig auf das Brett schaut, denke ich auf einmal: «Scheiße.» Mein Herz rast. Ich reibe mir mit den Händen das Gesicht. «Scheiße. Ich hab Angst. O Gott, scheiße, scheiße, scheiße. Ich hab Angst. Mach’s nicht! Mach’s nicht. Lass ihn uns. O Gott.»
    Ich rutsche auf der Bank hin und her, kann gar nicht mehr sitzen. «Du bist dran», sagt Lea, meine Cousine, und mit ihren Rehäuglein im Kindergesicht bohrt sie in meinen Augen rum. Ich tu so, als müsst ich nachdenken, leg meine Stirn an die Hand. «Du musst erst würfeln», sagt sie. Ich würfle. Fahre mit den Steinen, will zu Papa die Treppen rauflaufen, aber ich bleibe sitzen. Und dann atme ich ruhiger, und dann denke ich, dass es sich nicht von selbst tragen lässt. Dieser Glaube. Dass ich offenbar nicht in einem sicheren Boot sitze, unter dem sich der Glaube wie ein breiter Fluss entlangschiebt, sondern dass ich mich noch mehr entscheiden muss. Für Gott. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, welchen Anspruch Gott an mich hat. Was er will, außer Beten. Will er, dass ich jetzt regelmäßig in die Kirche gehe? Ich mach, was du willst, Gott. Is’ mir egal, was es is’. Ich tu’s. Ich geh auf den Strich, wenn du willst. Sag mir, was ich tun muss! Er sagt nichts.

    Am Abend dann wieder in der Stube sage ich zu Johannes leise: «Gehen wir hoch?» Er steht auf und geht mit mir zur Tür, an der Steffi schon wartet. Papa dreht sich auf einmal im Stuhl nach uns um. «Was macht ihr eigentlich immer da oben?», fragt er.
    Er erhebt sich vom Stuhl am Tisch und kommt auf uns zu und schaut uns an. Jemandem zu sagen, dass man für ihn betet, hat manchmal einen leichten Beigeschmack von Überheblichkeit, von «Ich kümmer mich mal um dich». Einem charismatischen starken Charakter, vor allem, wenn es der eigene Vater ist, so etwas zu sagen, kommt einem bescheuert vor.
    Johannes schaut auf seine Füße. «Wir beten», sagt er.
    «Und was betet ihr?», fragt Papa, und ich höre schon in seiner Stimme, dass da ein kleiner Teil seiner starken väterlichen Rolle bereit ist, zu fallen und für etwas anderes Platz zu machen.
    «Dass du lebst», sage ich leise und kann ihn nicht ansehen. Stattdessen sehe ich auf Wolle. Dunkel bis braun. Der Teppichboden, meine Socken, Papas Kordhose, Johannes’ Socken, und dann Papas Pullover, an den er mich plötzlich zieht – Steffi und Johannes, uns alle drei, und unsere Köpfe zusammen gegen seine Brust drückt und dabei mit gebrochener Stimme, erstaunt und erschrocken nur ein Wort ausstößt: «Ihr!»
    Johannes’ Stirn ist gegen Papas Pullover gedrückt, ihm laufen Tränen über das Gesicht, und er hat den Mund zusammengepresst, und er gräbt sich mit geschlossenen Augen ein, ganz nah vor mir sehe ich das. Steffis Nase an meinem Hinterkopf, ihr dünner, beherrschter, warmer Atem in meinem Haar, an meiner Kopfhaut.
    «Darf ich da mitkommen, wenn ihr jetzt wieder geht?», fragt Papa und lässt uns langsam los.
    Wir steigen unseren Eltern voran die Stufen nach oben auf den kalten Dachboden, und während ich die Tür oben öffne, frage ich mich wieder, wie das hier werden soll. Was, wenn Gott nicht auftaucht? Wenn Mama und Papa uns beim Beten zuschauen und uns süß finden und rührend, aber wenn sie nicht richtig mitbeten? Ich merke, während ich über die Dielen steige, dass ich keine Ahnung habe, ob Papa jemals in seinem Leben wirklich von Herzen was zu Gott gesagt hat oder ob er nur die gereimten Gebete gesprochen hat, so wie er eben auch einen Anzug im Büro trägt. Ich wünsche mir so, dass Gott noch mal zu uns ins Zimmer kommt. Ich flüstere im Kopf: Mach, dass Papa dich sieht, dass er dir glauben kann. Und Mama auch.
    Aber weil wir Kinder sichergehen wollen, beten wir lieber noch mal genau so, wie wir es beim ersten Dachbodengebet gemacht haben. Steffi startet mit ihrem Klassiker: «Wo zwei oder drei in deinem Namen versammelt sind», und ich lege meinen Text vom ersten Dachbodengebet hinterher. Ich weiß nicht, wie es meinen Geschwistern geht, aber wahrscheinlich versuchen sie genauso wie ich, Gott herbeizubeten, mit einer Formel, mit so richtig viel Gefühl, damit es so wird wie bei diesem ersten Gebet auf dem Dachboden.

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