Gott Braucht Dich Nicht
Zähne putzen und schmecken die Zahnpasta im Mund und fragen sich, wozu. Und dann verstehen sie vielleicht, dass das nun mal eben die Eigenschaft der Zahnpasta ist, einen Geschmack zu haben, aber sie wissen nicht mehr, warum. Die Zahnpasta gehört einem nicht mehr. Man nimmt es hin, dass sie im eigenen Mund Pfefferminzaroma hinterlässt. Aber man wünscht es sich nicht. Es ist so egal, dass man sich wundert über diese fremden Gegenstände im Haus. Über die Dinge, die man tut. Man wäscht sich noch das Haar. Ungefähr wissen die Hände, wie man das macht, und man lässt sie es tun. Manchmal gibt es Aussetzer, dann steht man irritiert da und weiß nicht genau, wie es weitergeht, dann hat man vergessen, warum man mit dem Rührgerät vor dem Kühlschrank steht, warum man auf einmal auf der Treppe sitzt.
Die Dinge der Welt klingen nicht mehr. Es gibt keine Harmonien mehr, keine logischen Tonfolgen, in denen man sich zurechtfinden könnte.
Das geschieht jeden Tag auf dieser Welt. In allen Ländern. Jeden Tag, immer wieder neu bricht die Welt in sich zusammen, ohne dass wir’s hören.
Gott lässt das zu. Und viele, die nie an ihn geglaubt haben, nehmen es als Bestätigung und können sagen: «Siehst du? Da ist niemand. Da war niemand. Der Tod und das Leiden geschehen in dieser Welt wie das Wetter. Wenn es kalt ist, dann friert der Mensch, wenn es noch kälter wird, stirbt er dran. Wir sind nicht fähig, die Dinge zu überleben. Wir sind drin in den Dingen. Wir brennen im Feuer und erfrieren im Eis und werden zerfressen, wenn unsere Zellen mutieren. Wenn ein Mensch nichts zu essen hat, dann verhungert er. Auch wenn sein Geist noch so sehr dagegen kämpft, er wird verhungern. So ist die Welt. So sind wir darin. Allein unsere Intelligenz kann uns retten, indem wir vorsorgen, uns schützen und Systeme entwickeln, die uns vor Hunger bewahren und vor Kälte und Krankheiten, vor Kriegen und den Ausrastern anderer Menschen, die in kaputten Systemen und Familien groß wurden. Da war niemals jemand. Da ist keiner. Auch wenn wir es uns wünschen würden.»
So konnte ich nicht denken. Es fühlte sich zwar genau so an, aber ich konnt’s nicht denken. Ich hätte mir selbst, mir und meinen Geschwistern, nachträglich einen Vogel zeigen müssen. Das muss man ja oft – sich selbst einen Vogel zeigen, Dinge revidieren, neu überdenken und so. Aber neu überdenken heißt eben nicht zu sagen: «Ätsch, siehste, ist alles ganz einfach, dein Vater ist tot, es gibt also doch keinen Gott.» Das konnte ich nicht. So einfach war es nicht.
Ich stand auf einmal wie ein Idiot mit einem Blumensträußchen vor Papas Grab und verstand die Welt und das Leben nicht mehr.
Der Tod passte nicht zu dem, was ich auf dem Dachboden verstanden hatte. Er passte nicht zu der Zuneigung, die diese Kraft uns entgegengebracht hatte. Der Tod ließ sich nicht vereinbaren mit der erstaunlichen Erfahrung, dass diese Kraft so sehr um einen weiß und jeder kleinste Krümel an Erlebnissen, Angst, jedes heimliche undefinierte Gefühl von uns in ihr Platz hatte, schon längst in ihr angekommen war. All diese Dinge konnten diese Kraft, diesen Gott, nicht unberührt gelassen haben.
Und vor allem eines passte nicht – diese Kraft auf dem Dachboden, diese ruhige Liebe, war gut. Da hätte man mir noch so viele Philosophiebücher reichen können, noch so viele kluge Gedanken nennen mögen, dass Gott alles und nichts ist und so weiter, ganz egal – er war gut. Und diese Güte hatte, und das kann ich nicht wirklich erklären, wie soll man das sagen – die hatte eine Autorität, nur weil sie so gut war. Wenn sie sich neben einen Vogel auf die Erde knien würde, um ihn zu betrachten, dann würde alles, was hinter ihr ist, jeder Baum, jede erhobene Faust, jeder Gedanke, alle Dinge würden sich mit ihr neigen. So tief, wie Gott sich neigt, hinunter zu dem blinzelnden Spatz. Die Dinge müssten es nicht, dieser Gott befiehlt es nicht, aber sie tun es. Weil er das Gute ist. Hinter ihm vollzieht alles seine Bewegung. Dazu zwingt er nicht. Sie vollziehen seine Bewegung in der Weise, wie Liebe sich vollzieht, sich vollziehen muss und will. Die neigt sich, steht auf, geht hinterher und fürchtet nicht, sich selbst zu verlieren. Die vollzieht das Ein- und Ausatmen der Dinge und bleibt, was sie ist, indem sie es tut.
Gott ist gut. Die Dinge folgen ihm. Und selbst wenn sie es nicht wollten, dachte ich – er könnte sie trotzdem zwingen. Sie gehören ihm. Sie kommen von ihm.
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