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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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Ich glaubte nicht, dass Papa sterben würde, aber ich konnte es nicht positiv ausdrücken. Ich konnte nicht sagen: «Gott liebt Papa, er hat einen Plan mit ihm, er wollte unseren Glauben testen, darum ließ er ihn krank werden. Papa wird gesund werden, weil …» Ich konnte es nicht positiv ausdrücken. Ich starrte Steffi an. Sie starrte mich an. Und dann packte mich die Wut. Empört darüber, dass jemand die Logik der Welt außer Kraft setzen will, machte ich die wahrste Aussage, sprach das Naturgesetz aus und das Recht und die Ordnung und schnauzte: «Aber das geht nicht! Der kann nicht sterben. Steffi! Stell dir mal Mama vor, wenn Papa tot ist. Der kann nicht sterben!» Wer will sich Tod denken können. Wer will die Auslöschung eines Menschen denken können, den man liebt. Das möchte ich sehen. Da kann man auch gleich versuchen, sein eigenes Gehirn mit Messer und Gabel zu essen.
    Wieder Stille. Offene Münder. Steffi starrte. Ich auch. Als hätten wir uns gegenseitig lahmgelegt, als warteten wir darauf, dass eine der beiden Aussagen zu überwiegen beginnt, damit man weitersprechen konnte. Wir waren so blockiert wie Hühner, die nicht wissen, ob sie angreifen oder fliehen sollen. Sie picken dann einfach. Wir starrten. Es stimmte nämlich beides. Man kann einen Menschen, den man liebt, nicht tot denken. Trotzdem war es wahr, dass Papa im Sterben lag. Mein Glaube an Papas Heilung war nicht etwa Verdrängung. Es war die Unmöglichkeit des Gedankens vom Tod. Wenn ich versuchen wollte, Papa tot zu denken, überhaupt die Auslöschung eines Menschen, hatte ich das Gefühl, meiner Liebe den Finger in den Hals zu stecken, meinen Vater wegzuwischen, mich, jeden, alles. Das ging nicht. Dazu war ich nicht gebaut. Damals jedenfalls ging das nicht.
    Das war also einer der Hauptgründe, warum ich zu dem Zeitpunkt damals im Auto an Papas Heilung glaubte. Ein empirisches Wunder erschien mir viel realistischer als der Tod, viel wahrer.
    «Ach, Esther», löste Steffi seufzend die Starre, beugte sich vor, zog mich in ihre Arme. Sie hatte da was verstanden. Sie war älter als ich. Ich glotzte an ihren braunen Haaren vorbei durchs Autofenster auf den grauen Platz. Ich war froh um ihre Umarmung, ich war unfroh in ihrer Umarmung, weil es sich anfühlte, als würde mich eine unbewiesene Behauptung festmachen wollen, mein Einverständnis haben wollen, von mir hören wollen: «Ja, Papa stirbt.» Und dagegen konnte ich nur versteinern. Oder ausrasten, mir ein Schwert machen lassen und jeden bedrohen, der so über meinen Vater lügt. Papas Leben ist Papa. Unser Leben sind wir. Wenn es kein Leben mehr gibt, gibt es uns nicht. Und das ist die größte Frechheit, das ist das Hässlichste, was man über einen Menschen sagen kann, dieses: Er ist tot. Dann scheiß auf die Menschenwürde, scheiß auf Naturschutz, scheiß auf die Welt, scheiß auf die Nachkommen, die auch noch abkratzen, scheiß auf die Welt, wenn «tot» wahr ist. Und ich wollte jeden bedrohen, der dies behauptet, und ich wollte der Welt verbieten, so zu tun, als wisse sie um meinen Vater. Wie kann sie. Was wissen wir über einen Menschen. Was wissen wir. Wie konnten Menschen sagen: «Esther, du musst ihn gehen lassen» – wohin denn? Wohin sollte ich ihn gehen lassen. Ich lasse niemanden, den ich liebe, gehen ins Nichts, ich lasse niemanden, der zu mir gehört, in den Tod gehen. Mir schlug das Herz bis in den Hals.
    «Aber was ist denn mit Gott?», sagte ich und löste mich wütend aus der Umarmung. «Ich mein, es stimmt doch nicht, Steffi. Es gibt doch Gott. Weißte doch selber. Das ist doch nicht alles nur Quatsch.»
    Sie sagte nichts. Sie sah zur Seite und kaute auf ihrer Unterlippe. Dann nickte sie still für sich, drehte sich mir zu und sagte: «Wir müssen wieder beten, Esther. Wir haben so lange nicht gebetet. Du?»
    Ich schüttelte den Kopf. «Nee, hab ich nicht. Ich konnte nicht. Nur manchmal. Ich kann nicht glauben, dass Gott zulassen würde, dass Papa stirbt.»
    «Ich auch nicht.» Sie klappte den Kragen von ihrem Mantel hoch, weil es so kalt war. Ich begann, nach Zigaretten zu suchen.
    «Mach wenigstens das Fenster auf», sagte sie, als ich welche in meiner Manteltasche unter zerknautschten Handschuhen gefunden hatte und mir eine ansteckte.
    «Ich find’s scheiße, dass du rauchst.»
    «Is’ mir egal», ich blies den Rauch aus dem rechten Mundwinkel, während ich die Scheibe runterkurbelte. Sie drückte sich den Schal an die Nase.
    «Kannst du den Motor anlassen,

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