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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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drückte mein Gesicht ins Kissen. Ganz leise, meinen Mund am Kopfkissenstoff, flüsterte ich dieses Wort, das einem so nah und selbstverständlich ist: «Papa.»
    Warten. Stille. Nur der Nachklang meiner Stimme, die, wackelig, nicht mehr wusste, wie man das eigentlich betont. Vorsichtig noch mal: «Papa.»
    Nur Zimmer. Dachschräge. Kissen. Kissengeruch.
    «Papa», ohne Klang im Teppich verschluckt, oder im Federbett.
    Und während ich dalag und einfach wieder weggleiten wollte, von der einen Nacht in die andere, irgendwohin, wo es echten, tiefen Schlaf gab und man sein Bewusstsein nicht aushalten musste, während mein Wachsein sich langsam eintrübte, hörte ich, nun etwas entfernter und leiser, das Kratzen an der Wand. Es ekelte mich. Aber ich war zu müde, um gegen das Holz zu treten. Es kratzte und nagte ungestört weiter. Ich schlief damit ein.

4
    Zu Gott sah ich nicht auf. Geohrfeigte Kinder sehen ihren Eltern wahrscheinlich erst dann richtig in die Augen, wenn sie sie schon verachten. Ich tat das nicht bei Gott. Ich schämte mich. Für ihn. Und für mich selbst. Keins von uns Kindern sprach über Gott nach Papas Tod. In unserem stummen Umgang miteinander, in den stillen Blicken beim Abwaschen, wenn wir uns die Teller reichten, oder ein «Gut’ Nacht» sagten, lagen nicht nur der Schreck und die Erschöpfung der Krankenzeit, sondern auch die unaussprechliche Täuschung unserer gemeinsamen Gebete.
    Aber Tota sagte was von Gott. Tota kam aus Bosnien und hatte meiner Mutter, als es uns noch gutging, im Haushalt geholfen. Und sie war vielleicht auch die Einzige, die das durfte – von Gott reden. «Kindchen. Sie sind alle noch da», sagte sie zu mir, und ihr Gesicht strahlte, ihre dunklen Augen glänzten. Sie legte ihre Hände um meine Wangen, wie sie das immer gemacht hatte, bevor ich aufs Internat kam, «Kindchen!», und küsste meine Backen und meine Stirn. Ich konnte sie nicht ansehen. «Estherle», sie suchte meinen Blick, «wir werden alle zusammen sein, wenn die Zeit kommt. Dein schöner Vater. Wie werden wir uns freuen!» Und sie hielt mein Gesicht ganz fest, und ich konnte nichts sagen. Tota war Christ.
    Und nur sie durfte so sprechen. Tota durfte alles sagen. Sie hatte in Bosnien die Hölle erlebt, und wenn sie von Gott sprach, klang es realistischer als das Grauen, was sie gesehen hatte. Wenn mein Vater ihr früher Weihnachtsgeld gegeben hatte, traf man sie eine halbe Stunde später in der Stadt, voll bepackt mit Tüten und Geschenken, die sie nach Bosnien schickte. Dann lachte sie. Und sagte: «Wir sind wie kleine Vögel. Wir brauchen nichts. Nur die Freiheit.» Ich liebte Tota.
    Sie war die Einzige, die so über Papa sprechen durfte, ich hätte nie gewagt, es in Frage zu stellen, aber ich konnte sie nicht gut dabei anschauen, ich weiß auch nicht. Alles verklang.
    Hin und wieder in jenen Tagen tauchte eine Sekunde mit einem Gedanken an Gott auf, aber der verschwand schnell, und ich blieb in der neuen Welt, die langsam aus dem Schnee um mich herum auferstand.
    Mama hatte keine Ahnung, wie wir finanziell dran waren. Sie war mit den Geburten von uns Kindern Hausfrau geworden, Papa hatte seine Firma gehabt. Und wenn ich Mama malen sollte, in dem Jahr nach Papas Tod, dann würde ich sie unter einem Papier- und Aktenhaufen begraben zeichnen. Wie sie darunterliegt und irgendetwas fragt, etwas, das man nicht versteht, so leise.
    Es müsste wieder Schleier geben. Schwarze Schleier für Witwen. So lang, dass sie sich auch über die Häupter der Kinder legen können. So müssten Witwen an den Gräbern stehen. Aber das tun sie nicht mehr. Das fänden alle auch zu traurig und übertrieben. Es ist lächerlich. Es gibt immer diesen Schleier, der nach dem Parfüm der Mutter duftet. Ob man ihn zeigt oder nicht. Es gibt ihn immer. Ich kenne keine Halbwaise, die sich nicht an das zarte Gefühl der Gaze um die Stirn und den verschatteten Blick erinnert. Ich kenne keine Halbwaise, die sich nicht zwischendurch vom Schleier befreien will, ihn abnimmt und freiwillig wieder anlegt, weil er einem eh entgegenweht, solange die Mutter ihn trägt.
    Im Herbst und Winter nach seinem Tod heizte Mama nicht. Aus Angst, sparen zu müssen, an allen Ecken. Und so war es an allen Ecken im Haus eiskalt, außer in Omas Zimmer. Und es war auch nur da Licht, wo sich jemand aufhielt.
    Am Anfang kochte sie manchmal aus Versehen für fünf Personen, und ich erinnere mich, wie betreten ich auf die fünf Stücke Fisch in der Pfanne auf dem Tisch

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