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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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sah, wie sie es bemerkte, sich seufzend setzte, die Hände faltete, die Augen kurz schloss, aber dann doch nicht betete. Stattdessen zog sie Omas Rollstuhl näher an den Tisch, steckte ihr die Serviette in den Kragen und begann, sie zu füttern.
    Wenn Oma nicht aß oder wenn sie nach jedem Schluck zu husten begann, wenn sie wegen der Gabel so nah an ihrem Mund irritiert war und sie wie eine Fliege verscheuchen wollte, verlor Mama manchmal die Nerven. Sie knallte die Gabel auf den Teller und stieß stöhnend aus: «Esther, mach du weiter. Ich kann nicht.» Ich fing schweigend an, die Gräten aus dem Fisch zu pulen, zerdrückte die Kartoffel für Oma, sah zu Mama – und sah, dass sie weinte. Ich legte die Gabel von Oma wieder aus der Hand, ging um den Rollstuhl herum, setzte mich zu Mama auf die Bank, umarmte sie, drückte sie, sagte «Mama», hielt sie kurz, um zu merken, dass meine Umarmung ihr nicht den Trost und den Schutz und das «Alles wird wieder gut» geben konnte. Das lag nur in Papas Armen. Ich hatte keinen Trost, ich hatte keinen Schutz.
    Mamas Trauer knüppelte uns Kinder zusammen. Und dabei weinte sie nicht oft, aber man merkt ja, ob jemand kämpft und innerlich nur am Schreien ist. Wir Kinder fingen an, überdimensional große Geschenke zu machen. Wir kratzten unser Taschengeld zusammen und kauften Opernkarten und rote Rosen, wie Papa es getan hätte. Aufstehen wurde schwer, einen Film gucken wurde schwer, Freunde traf ich in jener Zeit schon fast nicht mehr. Das ging nicht. Wir hatten keine gemeinsamen Themen mehr, und ich ging nicht mehr raus. Manchmal sagten Frauen, deine Mutter und du, ihr dürft das nicht verdrängen, ihr müsst den Schmerz rauslassen, und ich dachte, so jemand weiß nicht, wovon er spricht. Welchen Schmerz? Papa war erst ein paar Wochen tot. Ich vermisste ihn noch nicht. Welchen Schmerz? Es gab erst mal nur Tod. Und der tut nicht sofort weh. Der ist nur sehr streng. Der nimmt einem Oberfläche, auf der was haften bleiben kann. Und jede Zeile, die der Geist schreiben will, hat keine Tafel mehr, und die Kreide klackert auf Glas, und nichts bleibt hängen. Jeder Strich, den man ziehen will, jeder Bogen, ob verträumt oder genau und konzentriert, rutscht ab auf Glas. Man ist auf einmal dumm.
    Ich hatte vorher nicht gewusst, was für eine Kraft Grauen hat. Was für eine Kraft der Tod hat. So stark gegen das Leben. So, dass die Hand zwischendurch an die Oberlippe fahren muss, weil man denkt, sie sei eingeschlafen. «Numb», das englische Wort für taub. Gutes Wort. Weil es so hilflos klingt, wie ein Sprachversuch, ein Gelalle von Kleinkindern, und das passt, wenn man Menschen beschreiben will, die sich sehr erschrocken haben. Die nicht mehr funktionieren. Sie werden unangenehme Betrachter der Welt. Sehen den falschen Dingen nach, verlieren schnell die Aufmerksamkeit, bleiben mit dem Blick an unwichtigen Details hängen wie Kleinkinder, die über vorbeifahrende Autos staunen. Das ist für das Umfeld unangenehm. Und darum blieben Mama und ich im Haus. Jeder für sich. Und wenn wir ins Bett gingen, wenn ich gute Nacht sagte, hatten wir keinen Tag hinter uns gebracht. Es war nur für heute etwas vorbei, was morgen wieder beginnen und weitergehen würde.

5
    Nachts aufgewacht. Wieder geträumt von den Menschen, die in unserem Garten stehen und uns anschauen. So vereinzelt alle zehn Meter steht einer.
    «Verschwindet!», hab ich dann geschrien. «Ihr sollt weggehen!» Aber sie sind stehen geblieben und haben nur geguckt, regungslos. Dann haben sie einen kleinen Schritt gemacht nach vorne, auf mich und das Haus zu. «Ihr sollt gehen! Geht jetzt, sofort! Weg!» Noch einen Schritt gemacht.
    Im Augenwinkel habe ich dann gesehen, dass da jemand schon fast seinen Fuß auf die Terrasse gesetzt hat. Ein Mädchen. Und dann habe ich gemerkt, dass sie spricht, ununterbrochen. Die ganze Zeit spricht sie leise und sieht mir dabei ins Gesicht. Ich verstehe ihre Sprache nicht, obwohl sie Deutsch redet. Sie macht den Schritt auf die Terrasse und spricht weiter, langsam und leise, und schaut mich an. Ich schreie, dass sie verschwinden soll. Sie macht noch einen Schritt, und ich renne ins Haus und greife nach dem Bügeleisen und schlage ihr damit den Kopf ab. Der Körper fällt um, ich greife nach ihren Haaren, reiße den Kopf in die Luft und halte ihn den Menschen im Garten entgegen, die wieder einen kleinen Schritt auf mich zu machen. «Ihr sollt nicht hier sein», ich zittere, weil ich so Angst habe, und

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